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Der Weg die Treppe hinauf beraubte sie fast ihrer letzten Kräfte. Auf dem oberen Drittel des Weges trug Löwenzahn Geist auf seinen Schultern, das Moosfräulein konnte vor Erschöpfung kaum mehr sprechen. Alberich und Mütterchen stöhnten und schimpften, doch als Löwenzahn sich erbot, auch die Räuberin zu tragen, lehnte sie beleidigt ab.

Diesmal gab es unterwegs keine Geschichte, die ihnen die Zeit vertrieb, und so wurde der Marsch zu einer eintönigen, kräftezehrenden Tortur. Sie hatten gehofft, am Grunde der Horthalle auf ihre Feinde zu stoßen und den Kampf ein für allemal zu entscheiden. Statt dessen aber hatte sich der Abstieg als sinnlos erwiesen, und nicht nur Mütterchen schäumte darüber vor Wut.

Dennoch, als sie endlich oben ankamen, war jeglicher Zorn verraucht. Mütterchen war froh, daß sie sich noch auf den Beinen halten konnte. Sie hatten keine andere Wahl, als auf der Plattform eine Weile zu verschnaufen. Müdigkeit stellte sich ein, denn über die Ufer des Rheins war mittlerweile tiefste Nacht hereingebrochen. Geist hatte ein wenig auf Löwenzahns Schultern geschlafen und wirkte von allen noch am muntersten. Auch der Halbhunne hielt sich bemerkenswert gut, während Alberich und Mütterchen tapfer gegen ihre Schläfrigkeit ankämpften. Doch Mütterchen wußte: Wenn sie noch eine Weile aushielten, würde der schlimmste Punkt überschritten sein. Danach würden ihre Körper für einen neuen Kräfteschub sorgen.

Alberich führte sie vom Portal der Horthalle aus einen Gang hinab in die verlassenen Zwergenminen. Die grob gehauenen Stollen waren erstaunlich breit und wurden von hölzernen Stützbögen gehalten. Alberich erklärte, daß die meisten Stollen in Form eines Sterns auseinanderliefen, in dessen Zentrum sich die Halle mit den alten Gerätschaften der Zwerge befand.

Gelegentlich blieben die vier Gefährten stehen und lauschten auf die Trommeln der Nordlinge, doch nie hörten sie etwas anderes als ihren eigenen hastigen Atem und das dumpfe Knirschen der Minenbohrer in der Tiefe des Berges.

»Dort vorne«, sagte Alberich, als der Bergwerksgang steiler nach unten führte. In weiter Ferne mündete er in eine breitere Grotte. »Das ist die Kreuzung, an der die meisten Stollen zusammenlaufen. Hinter einem Tor liegt die Halle der Minenbohrer.«

Vorsichtig huschten sie weiter, eng an die Wände gepreßt, Schwerter und Goldgeißel fest in den Händen. Nur Geist war unbewaffnet. Sie hielt sich eng hinter Löwenzahn.

Sie hatten die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ihnen Lärm entgegentönte.

»Du hattest recht«, zischte Alberich Mütterchen zu. »Sie verschieben die Bohrer.«

Mütterchen horchte aufmerksam. Es war ein lautes Knirschen wie von Stein, der unter riesigen Rädern zermahlen wurde. Die Bohrer mußten gewaltig sein. Sie fragte sich, ob nicht doch ein wenig der alten Albenmagie im Spiel gewesen war, als diese Geräte erschaffen worden waren.

Sie erreichten die Kreuzung und blickten aus ihren Verstecken hinter den Felskanten durch ein breites Tor, größer noch als das der Horthalle. Der Saal dahinter war niedrig, aber weitläufig. Zu beiden Seiten standen in langen Reihen die Minenbohrer. Sie sahen aus wie Drachen aus Holz und Stahl, etwa zweimal so hoch wie ein Pferd und ebenso lang, gebuckelte Formen, die auf brusthohen Rädern ruhten. An den Vorderseiten waren Rammböcke angebracht - zumindest hielt Mütterchen sie dafür -, deren Enden in stählernen, vielfach gewundenen Spitzen ausliefen. Nordlinge oder Zwerge waren nirgends zu entdecken. Der Lärm hatte seine Quelle offenbar im hinteren Teil der Halle, der von hier aus nicht einzusehen war.

»Wie sollen wir vorgehen?« fragte Mütterchen.

Löwenzahn tätschelte zärtlich den Knauf seines Zweihänders. »Wir gehen rein. Wir erschlagen sie. Wir haben gewonnen.«

»Sehr klug«, giftete Alberich. »Wirklich sehr, sehr klug.«

Mütterchen zuckte mit den Achseln. »Wie es aussieht, haben wir gar keine andere Möglichkeit, oder?«

»Aber wir sind nur zu viert«, gab Alberich zu bedenken.

»Vergiß nicht, daß wir Geist bei uns haben.« Mütterchen warf dem Moosfräulein einen stolzen Blick zu. »Mit ihren Fähigkeiten sind wir kaum zu schlagen. Sie hat bewiesen, daß sie besser kämpft als jeder andere von uns.«

Geist schaute betroffen zu Boden. »Kämpfen, du liebe Güte! Ich bin doch keine Kriegerin!«

»Immerhin hast du unser aller Leben gerettet«, erwiderte Mütterchen.

»Das war...«, begann Geist, verstummte kurz und begann von neuem. »Das war nicht mein Verdienst. Es ist einfach geschehen, versteht ihr? Ich wußte doch gar nicht, was ich da tat. Es waren die Pflanzen. Es war das Moos.«

Löwenzahn fuhr sich durch seine schwarze Haarmähne. »Das begreife ich nicht.«

Geist tapste unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sie sah aus, als kämpfte sie mit den Tränen. »Ich habe die ganz Zeit darüber nachgedacht. Ich glaube, ich weiß jetzt endlich, was geschehen ist.«

»Es ist die Magie des Drachen in dir«, sagte Alberich ungeduldig. Immer wieder schaute er sich besorgt zum Tor der Halle um.

»Laß sie ausreden!« fuhr Mütterchen ihn an und tätschelte Geists bemoosten Handrücken.

»Alberich hat recht«, bestätigte Geist, »es ist die Magie. Aber nicht immer habe ich Einfluß darauf. Was in dieser Grotte geschehen ist, das war nicht mein Tun. Oder zumindest nicht meines allein.« Sie rang verzweifelt nach Worten. Mütterchen lächelte ihr beruhigend zu, während Alberich immer ungeduldiger wurde. »Das Moos an den Wänden, die Pflanzen in dieser Höhle, sie haben durch mich gewirkt. Ich war ihre Waffe. Die Zwerge hatten Teile des Mooses vernichtet und damit die Pflanzen gegen sich aufgebracht. Ihr Zorn hat mich verwandelt, hat mich zu dem gemacht, was ihr gesehen habt, diesem Ding an der Decke, das mit seinen Ästen tötet wie Löwenzahn mit seinem Schwert.« Nun weinte sie wirklich, doch als Mütterchen sie tröstend in den Arm nehmen wollte, schüttelte das Moosfräulein den Kopf. »Ich trage das Erbe des Drachen in mir, aber ich weiß nicht, ob es wirklich ein Segen ist. Ich habe keine Macht darüber. Es tut mit mir, was es will, die Pflanzen tun mit mir, was sie wollen. Ja, vielleicht könnte ich kämpfen, vielleicht könnte ich noch mehr Zwerge töten, sogar einige dieser Nordlinge. Aber keiner fragt mich, ob ich töten will. Das Moos an den Wänden hat es gewollt, und es hat mich dazu gebracht, seinem Willen zu gehorchen. Aber was, wenn es dort, wo wir auf unsere Gegner treffen, kein Moos gibt, keine Pflanzen, die diese Mächte in mir steuern?« Sie schüttelte bedrückt den Kopf. »Ich allein kann es nicht.«

Mütterchen versuchte nachzufühlen, was tatsächlich in Geist vorging, welche Qualen sie litt. Alberich aber war ein Mann der Tat, und für ihn zählte im Augenblick nur die Vertreibung der Nordlinge. »Heißt das«, fragte er unwirsch, »solange kein Grünzeug in der Nähe ist, kannst du nichts tun, als dich von Löwenzahn auf den Schultern herumtragen zu lassen?«

»Alberich!« zischte Mütterchen warnend. Auch Löwenzahn starrte den Zwerg zornig an und wollte gerade etwas sagen, als Geist ihm zuvorkam:

»Das heißt es, ja. Ich bin für euch ohne jeden Nutzen.«

»Ohne Nutzen?« wiederholte Mütterchen fassungslos. »Mein Gott, Kindchen, wir sind Freunde! Seit wann wird sowas an Nutzen gemessen?«

Geist hob die Schultern. »Weiß nicht. Ich hatte noch nie Freunde.« Bis vor zwei Jahren hatte sie völlig vereinsamt im Wald gehaust, und jeder der drei anderen wußte das. Sogar Alberichs Gesichtsausdruck wurde plötzlich weich und milde, und er trat auf das Moosfräulein zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Verzeih mir. Ich war aufgeregt. Wir werden bald gegen einen Feind antreten, der vor zweihundert Jahren mein ganzes Volk unterworfen hat. Meine Worte waren unbesonnen.«