»Allerdings«, rügte Mütterchen ihn scharf. Zu Geist sagte sie sanfter: »Wir werden es auch ohne deine Kräfte schaffen, verlaß dich darauf. Nicht wahr, Löwenzahn?«
Der Halbhunne grinste schief. »Aber sicher.«
»Dann laßt uns gehen«, entschied Mütterchen. »Willst du lieber hierbleiben, Kindchen?«
Geist schüttelte vehement den Kopf. »Ich komme mit. Ich will bei euch sein.«
Damit war ihr Vorgehen beschlossene Sache. Ohne länger zu zögern, schlichen sie über die leere Stollenkreuzung und durch das Tor der Halle. Der Lärm war gedämpfter geworden, und bald erkannten sie auch den Grund.
Am entgegengesetzten Ende der Halle klaffte eine Öffnung in der Wand, grob aus dem Fels geschlagen, mit gezackten Rändern wie gewaltige Kiefer. Gerade noch sahen die Gefährten in diesem Schlund einen der Minenbohrer verschwinden, geschoben von einem halben Dutzend Zwerge. Wachen gab es keine in der Halle, offenbar setzten die Nordlinge jeden ihrer Lakaien für die Grabungsarbeiten ein. Das Knirschen der Räder wurde leise, dann hatte der abschüssige Stollen jenseits der Öffnung das schwere Bohrgerät und die sechs Zwerge verschluckt.
Mütterchen und die anderen schauten sich fasziniert um. Mindestens zehn weitere der plumpen Geräte standen noch in zwei Reihen zu beiden Seiten der Halle. Die riesigen Rammböcke mit ihren Korkenzieherspitzen wirkten aus der Nähe viel gefährlicher als von weitem.
Mütterchen hatte nicht die geringste Ahnung, wie die Minenbohrer arbeiteten, doch ihre Achtung vor Alberichs Vorfahren wuchs. Der Zwerg wiederum schien das Staunen seiner Freunde zu genießen.
Nach einem Augenblick zogen sich die Gefährten in den Schatten eines der Bohrer zurück.
»Wie viele davon gab es hier ursprünglich?« flüstert Mütterchen.
»Sechzehn«, erwiderte der Horthüter leise. »Dazu noch jene, die damals in den unfertigen Stollen stehengeblieben sind.«
»Die werden wahrscheinlich noch an Ort und Stelle sein. Es dürfte einfacher sein, sich hier zu bedienen, als diese Kolosse im ganzen Berg zusammenzusuchen. Das bedeutet, daß fünf wahrscheinlich schon im Einsatz sind, dazu bald noch ein sechster.«
»Die Zwerge in der Moosgrotte hatten aber nur Spitzhacken dabei«, sagte Geist.
»Zu wenig Platz für einen der Bohrer«, mutmaßte Mütterchen. »Vielleicht versuchen sie es auf unterschiedlichen Wegen. Weiß der Teufel, was in den Köpfen der Nordlinge vor sich geht. Sicher scheint mir aber zu sein, daß fünf Tunnel bereits in Arbeit sind. Zwei Bohrer haben wir in der Horthalle gehört, was hoffentlich bedeutet, daß die drei anderen noch zu weit entfernt waren.«
»Und nun?« fragte Alberich. »Gehen wir endlich hinterher und erschlagen die Bastarde?«
»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte ihn Mütterchen. Sie deutete auf den Bohrer, neben dem sie sich versteckten. »Weißt du, wie man mit diesen Dingern umgeht?« fragte sie Alberich.
Der Horthüter nickte, ohne zu begreifen, auf was sie hinauswollte.
Mütterchen blickte zu der Öffnung, die die Nordlandzwerge in die Hallenwand gebrochen hatten. Niemand war zu sehen.
Hastig erklärte sie den anderen ihren Plan. Alberich blieb argwöhnisch (vermutlich, weil er nicht selbst darauf gekommen war), doch Löwenzahn zeigte sich begeistert, vor allem, weil das Gelingen von Mütterchens List allein von ihm abhing. Er liebte es, sich vor seinen Freunden zu beweisen, und wie es aussah, würde sich ihm bald die beste Gelegenheit dazu bieten.
Die sechs Nordlandzwerge hatten ihre Last gerade aus dem Stollen hinaus in die Weite des Tunnels geschoben, als hinter ihnen Lärm laut wurde. Ihr Köpfe ruckten herum. Aus ihren Kehlen löste sich ein vielstimmiger Aufschrei, als sie sahen, was hinter ihnen den Stollen herabdonnerte - geradewegs auf sie zu.
Der Minenbohrer rollte mit enormer Geschwindigkeit aus dem Stollenausgang, rammte seine Spitze in den Rücken des vorderen Gerätes und riß ihn auseinander. Die Zwerge, die sich zwischen den beiden Holz- und Stahlgiganten befanden, versuchten sich mit weiten Sprüngen in Sicherheit zu bringen, doch nur zweien gelang es. Die vier anderen wurden zwischen den schweren Geräten zerquetscht, und ihr Kreischen verhallte abrupt. Der vordere Minenbohrer brach in Stücke, sein Rammbock löste sich aus der Verankerung und polterte mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden.
Im Stollenausgang standen die vier Gefährten, bewaffnet und kampfbereit mit Ausnahme von Geist. Löwenzahns Kleidung war durchnäßt vom Schweiß, und seine Klinge zitterte leicht. Den riesigen Minenbohrer ganz allein den Stollen hinabzuschieben war selbst für ihn fast zuviel gewesen. Doch Geists aufmunterndes Lächeln hatte ihm immer dann neue Kraft gegeben, wenn er geglaubt hatte, aufgeben zu müssen. Irgendwann hatte das Gerät in dem abschüssigen Gang durch sein eigenes Gewicht soviel Schwung entwickelt, daß die Mühsal erträglicher wurde. Als der Minenbohrer schließlich hinaus auf die Zwergenstraße gerollt war, war das beinahe ohne Löwenzahns Zutun geschehen.
»Grundgütiger«, brummte Mütterchen jetzt, als sie hinaus in den Tunnel blickte, »seht euch das an!«
Sie befanden sich kurz vor dem Ende der Zwergenstraße. Fünfzig Schritte weiter südlich erhob sich die Geröllrampe, die zum einstigen Zugang hinaufführte. An ihrem Fuß befand sich ein mannshoher Haufen aus Gold und Geschmeide, Teile des Hortes, die beim Schließen des Tores vor zweihundert Jahren hinabgefallen waren; die Nordlinge hatten sie aufsammeln lassen, damit nicht das kleinste Stück verlorenging. Fünf Stollen, das Werk der Minenbohrer, schnitten rund um die Rampe ins Gestein der Tunnelwände. Anders als Mütterchen erwartet hatte, versuchten die Nordlinge nicht, die Bohrer geradewegs durch die riesige steinerne Falltür in der Decke zu treiben. Offenbar waren die Geräte zu schwer, um sie in derart steilem Winkel anzusetzen. Statt dessen führten die fünf Stollen mit vergleichsweise sanfter Steigung in die Seitenwände der Zwergenstraße. Die plumpe Form der Bohrer machte es unumgänglich, die Tunnel wie Spiralen nach oben zu schrauben, nicht zu steil, damit die Zwerge, die die Bohrer schoben, nicht unter deren Last zerdrückt wurden. Nur deshalb dauerten die Arbeiten so lange, und allein diesem Umstand hatten die Gefährten es zu verdanken, daß die Feinde noch nicht bis zum Hort vorgedrungen waren.
»Die müssen schon seit einer halben Ewigkeit hier unten zugange sein«, entfuhr es Alberich atemlos.
Mütterchen wollte etwas erwidern, doch im selben Augenblick entdeckte sie vier Nordlinge, die, angelockt vom Lärm der kollidierenden Minenbohrer, aus einem der Stollen gelaufen kamen. Die Krieger trugen Kleidung aus Fell und Eisenschalen, jener Löwenzahns nicht unähnlich. Ihre vor dem Gesicht geschlossenen Helme hatten schmale Augenschlitze, obenauf erhoben sich mächtige Hörnerpaare. Alle vier waren mit wuchtigen Breitschwertern bewaffnet.
»Zurück in den Stollen!« wies Mütterchen die anderen an. Die Freunde zogen sich zurück und beobachteten aus ihrem Versteck, wie die vier Krieger sich zögernd dem zerschmetterten Minenbohrer näherten. Das zweite Gerät, jenes, das Löwenzahn geschoben hatte, stand über den Trümmern wie eine triumphierende Urzeitbestie. Die beiden überlebenden Zwerge kauerten verletzt am Boden, der eine schleppte sich gerade zurück zu den Resten des Bohrers, um nach seinen toten Kameraden zu sehen.
Die Nordlinge erreichten die Trümmer. Einer stieß den kriechenden Zwerg grob mit dem Fuß zur Seite, ein anderer lief eilig davon und verschwand in einem der Stollen. Mütterchen fluchte im stillen. Sobald der Krieger seine Befehlshaber über den Vorfall in Kenntnis gesetzt hatte, würde es hier unten von Nordlingen nur so wimmeln. Sie hatte gehofft, ihre Gegner einzeln oder in kleinen Gruppen überraschen zu können; mit einer ganzen Heerschar aber würden sie es schwerlich aufnehmen können.