»Sie sind nur noch zu dritt«, zischte sie den anderen entschlossen zu. »Jetzt oder nie!«
Und schon stürmten Löwenzahn und Alberich vor, Mütterchen lief hinterher. Geist blieb am Eingang des Stollens zurück und schaute sich angestrengt nach einer Spur von pflanzlichem Leben um, irgend etwas, das ihr helfen würde, die Mächte, die in ihr schlummerten, aufzuwecken und einzusetzen. Doch hier unten gab es nicht einmal Schimmelpilze.
Alberich ließ die Goldgeißel klirrend über seinem Kopf kreisen, aber Löwenzahn war schneller. Seine Erschöpfung war geschwunden. Mit weiten Schritten raste er auf den ersten Nordling zu. Löwenzahn war ihm an Größe ebenbürtig, dabei sogar noch eine Spur breitschultriger. Einem Zwerg mußten die Männer aus dem Nordland wie Riesen erscheinen, doch für den Halbhunnen waren sie gleichberechtigte Gegner.
Löwenzahn mochte nicht besonders gewitzt sein, und manchmal stand seine Verliebtheit klaren Entscheidungen im Wege, doch mit dem Schwert vermochte er umzugehen wie kaum ein anderer. Der Nordling riß seine Waffe hoch und parierte Löwenzahns Hieb im letzten Moment, geriet dabei aus dem Gleichgewicht und stolperte nach hinten. Bevor Löwenzahn nachsetzen und zustoßen konnte, sprang bereits ein zweiter Nordlandkrieger herbei und attackierte ihn mit einer Serie heftiger Schläge und Stiche. Kurz sah es aus, als würde Löwenzahn unterliegen, doch dann gelang ihm ein Ausbruch aus seiner Defensive, er sprang vor, führte einen Stoß nach dem Hals des Gegners, nutzte dessen Abwehrschlag und zog sein Schwert in einer Drehung hinab zur Hüfte des Nordlings. Die Klinge des Zweihänders fuhr durch Fellwams und Fleisch des Kriegers, der Mann schrie unter seinem Helm dumpf auf, dann tötete Löwenzahn ihn mit einem zweiten Hieb in die Seite.
Alberich schlug mit der Goldgeißel auf den dritten Nordling ein. Die vergoldeten Stachelkugeln krachten gegen den Brustpanzer des Kriegers, brachten ihn jedoch eher aus der Fassung als in echte Bedrängnis. Bald schon ließ der Mann sein Schwert herumwirbeln und drang damit auf den Horthüter ein. Die Geißel war eine hervorragende Waffe zum Angriff, doch zur Parade war sie denkbar ungeeignet. Alberich fing zwei Schläge mit dem Stahlgriff ab, mußte dann jedoch mehrere Schritte zurückweichen. Im selben Augenblick sprang Mütterchen an seine Seite. An Kraft hatte sie dem Nordling nichts entgegenzusetzen, doch was das Geschick mit der Klinge anging, war sie ihm durchaus gewachsen. Schneller, als ihr greises Äußeres es vermuten ließ, tauchte sie unter einem Angriff hinweg und rammte dabei ihre Spitze ins rechte Bein des Kriegers, oberhalb seines Knies. Der Mann brüllte vor Zorn und Schmerz, fegte Mütterchen mit einem wütenden Handschlag beiseite, holte aus, um sie zu erschlagen - und wurde von Alberichs Goldgeißel kraftvoll am Helm getroffen. Der eiserne Gesichtsschutz zerriß unter dem Anprall der ersten Kugeln wie Papier, die Stacheln der nächsten zerfetzten sein Nase und Augenpartie. Mütterchen stieß noch im Liegen ihr Schwert nach oben und tötete den Nordling mit einem geraden Stich in die Eingeweide.
Derweil hatte sich Löwenzahn jenem Nordling zugewandt, der unter seinem ersten Angriff zu Boden gestürzt war. Das Duell zwischen beiden war schnell entschieden. Löwenzahns Zweihänder fuhr mit unglaublicher Kraft in die Schulter des Mannes, schnitt schräg hinab bis in die Brust. Der Schlag fällte den Nordling wie eine Handpuppe, aus der ein Puppenspieler seine Finger zieht; stumm und leblos sackte der Krieger zusammen.
Mütterchen packte einen der beiden verschüchterten Zwerge am Kragen. »Wie viele von diesen Kerlen gibt es hier unten? Los, rede!«
Der Zwergenarbeiter versuchte vergeblich, Worte zu formen. Der Schreck saß ihm zu tief in den Knochen. Wahrscheinlich hatte er nie zuvor erlebt, daß einer seiner Herren erschlagen wurde, geschweige denn gleich drei auf einmal.
Alberich drängte Mütterchen zur Seite. »Laß mich das machen.« In der kehligen, hastigen Sprache seines Volkes redete er auf den Zwerg am Boden ein, und es vergingen nur Augenblicke, da erhielt er eine Antwort.
»Dreißig Nordlinge«, übersetzte Alberich für die anderen, »und etwa sechzig Zwerge.«
»Neunzig!« entfuhr es Mütterchen. Sie war kreidebleich geworden. Auch Löwenzahn verzichtet auf aufmunternde Parolen; eine solche Zahl erschreckte selbst ihn.
Geist trat neben sie. »Es gibt hier unten keine Pflanzen. Nicht einmal eine Spur davon«, sagte sie in einem Tonfall, als sei es nötig, sich dafür zu entschuldigen.
Aus dem Bohrerstollen, in dem der vierte Nordling verschwunden war, erklangen jetzt Geräusche. Das Schaben von Schritten, Befehle in einer fremden, unverständlichen Sprache. Noch war niemand zu sehen.
»Wenn wir den Bohrer hineinschieben«, begann Löwenzahn und deutete auf den unversehrten Koloß, aber Mütterchen unterbrach ihn: »Keine Zeit. Außerdem könntest selbst du ihn nicht gegen einen Ansturm der Nordlinge halten.« Ihre Gedanken überschlugen sich. »Alberich, frag den Zwerg, welche der beiden Stollen zu jenen Bohrern führen, die als erste zur Horthalle vorstoßen werden.«
Alberich tat es und wies bald darauf auf zwei der Stolleneingänge. Jener, in dem die Nordlinge immer näher kamen, war nicht darunter. Trotzdem bestand nicht der geringste Zweifel, daß sich auch in den übrigen feindliche Krieger aufhielten, ganz abgesehen von Dutzenden von Zwergen.
Mütterchen eilte zu einem der Eingänge, über den sie noch nichts wußten. Im Näherkommen erkannte sie, daß daraus ein Wasserlauf strömte, zwei Schritte breit und etwa fingertief. Am Boden des Tunnels verzweigte sich das Wasser in eine Vielzahl schmaler Rinnsale und verschwand in Spalten und Löchern.
»Was ist hiermit?« fragte sie und nickte dem Zwergenarbeiter zu.
Er verstand auch ohne Übersetzung und redete eilig auf Alberich ein.
»Ein Fehlschlag«, sagte der Horthüter. »Der Stollen ist verlassen. Der Minenbohrer ist vor einigen Tagen auf Wasser gestoßen. Die Nordlinge gaben Befehl, ihn stehenzulassen, und zogen die Arbeiter in die anderen Stollen ab. Unser Freund hier sagt, etwas Ähnliches sei schon einmal passiert, vor ungefähr zwei Wochen.« Alberich deutete auf den letzten Stollen. Auch dort glitzerte Feuchtigkeit, allerdings sehr viel weniger. »Ich nehme an, sie sind auf den See in der Moosgrotte gestoßen. Deshalb war soviel von dem Wasser abgelaufen.«
»Der Strudel«, murmelte Geist gedankenverloren.
Alberich nickte. »Weil die Bohrerspitze noch in der Öffnung steckt, läuft das Wasser nur langsam ab.«
»Wartet, wartet«, sagte Löwenzahn schwerfällig. »Die Nordlinge sind zweimal auf Wasser gestoßen, nicht wahr? Das da« - er zeigte auf den Stollen mit dem schwächeren Rinnsal - »kommt aus der Moosgrotte.« Er drehte sich um zu dem anderen Stollen, aus dem der Bach strömte. »Woher aber stammt dann dieses Wasser?«
»Mir fällt nur eine Möglichkeit ein«, meine Mütterchen und horchte zugleich auf den Lärm der Nordlinge. Der Fels verzerrte das Echo, es war unmöglich zu sagen, wie nahe sie bereits waren.
Alberich wurde immer unruhiger. »Sie sind mit den Bohrern zu weit nach Westen vorgestoßen, außerdem viel zu weit nach oben.« Er verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Weil sie keine Ahnung von dem haben, was sie tun.«
»Zu weit nach Westen«, wiederholte Geist leise, »zu weit nach oben. Heißt das, am Ende dieses Stollens fließt -«
»Der Rhein«, führte Mütterchen den Satz zu Ende. »So, wie es aussieht, hat nicht viel gefehlt, und unsere Freunde hätten den ganzen Tunnel unter Wasser gesetzt.«
Und alle, sogar Löwenzahn, hatten plötzlich den gleichen Gedanken.