»Die Flut kommt!« brüllte Mütterchen, aber es war gleichgültig, ob irgendwer sie hörte. Alle wußten, daß der Tod ihnen eng auf den Fersen war.
Die Felsschicht, die der Bohrer zerstört hatte, gehörte nicht zum eigentlichen Flußbett - der Rhein strömte viel weiter oben, höher noch als die Horthalle -, war offenbar aber durch eine Vielzahl von Spalten mit dem Strom verbunden. Hätte der Fluß selbst sich durch den Tunnel gewälzt, so wäre wohl keinem von ihnen auch nur die Zeit für einen letzten Atemzug geblieben. So aber kam die Flut zwar schnell und mit einer Kraft, die die einer jeden Kreatur tausendfach überstieg; trotzdem blieb allen, die in diesem Augenblick in die Horthalle stürmten, eine leise Spur von Hoffnung. Hoffnung, der Katastrophe doch noch zu entrinnen. Hoffnung, am Leben zu bleiben.
Es war ein aufwühlendes, zugleich auch beängstigendes Gefühl, dieses Hoffen auf ein wenig Glück.
Ein trügerisches noch dazu.
Denn im selben Augenblick wehte ihnen allen ein Schub eisiger Kälte in den Rücken.
Mit der Kälte kam Nässe.
Und die Nässe war nur der Vorbote einer Flutwelle, die alles übertraf, was sich selbst ein Schwarzseher wie Alberich hätte ausmalen können.
Am Eingang der Halle stand Geist und sah mit Entsetzen, wie sich hinter ihren Freunden eine Wand aus weißer, brodelnder Gischt aufbaute. Als Vorbote der Flut schoß ein hüfthoher Wasserteppich durch den Saal, riß die drei Gefährten von den Beinen, warf Nordlinge und Zwerge durcheinander. Geist war einen Moment lang wie versteinert, konnte nichts anderes tun als dazustehen und zuzusehen, wie der Tod ihre einzigen Freunde holen würde, und bald, in drei, vier Herzschlägen, auch sie selbst.
Und dann spürte sie es.
Wasser schnellte über den Hallenboden auf das Tor und auf das Moosfräulein im Spalt zwischen den Flügeln zu. Als die ersten Ausläufer Geists Fußspitzen berührten, durchfuhr sie ein Hitzestoß wie der Einschlag eines Blitzes. Irgendwo in ihrem Inneren - nicht nur in ihrem Kopf, überall, in ihrem ganzen Körper - regte sich etwas. Eine Bewegung, ein Pulsieren, ein Druck, der ihre Sinne aufblähte, ihre Empfindungen schärfte. Der Drache erwachte aus seinem Schlummer, nicht die schuppige, bösartige Bestie selbst, sondern das, was sie beherbergt hatte. Das Erbe einer Magie, die jenseits aller Taschenspielertricks der Alben lag, jenseits simpler Hexerei und Nekromantie.
Alles geschah im Bruchteil eines Augenblicks. Für Geist war es, als wäre das Rad der Zeit aus seiner Spur geraten, als drehte es sich langsamer, um dann ganz stillzustehen. Die Umgebung erstarrte. Das Wasser zu ihren Füßen, die herandonnernde Flutwelle, der vergebliche Kampf ihrer Gefährten gegen den Untergang, all das versteinerte zu einem einzigen, scharf umrissenen Augenblick. Geist wußte, daß es eine Täuschung war, daß sie selbst sich mit einemmal zwischen den Augenblicken befand, wie ein Leser, der zwischen den Zeilen eines Buches verharrt.
Es war das Wasser. Millionen und Abermillionen pflanzlicher Lebewesen, zu klein, um sie mit bloßem Auge zu erspähen. Und doch war die heranbrausende Flut derart davon durchsetzt, daß Geist unter dem Ansturm fremder Empfindungen fast zusammenbrach. Mühsam versuchte sie, bei Verstand zu bleiben, bis der erste Moment der Überraschung und des Schmerzes vergangen war. Anders als in der Grotte, wo sie sich vom Bewußtsein der zornigen Moospflanzen hatte lenken lassen, versuchte sie nun, den Vorgang umzukehren. Diesmal wollte sie diejenige sein, die die Kräfte in ihrem Inneren steuerte, es war ihr Körper, und sie allein hatte das Erbe des Drachen angetreten. Aber sie wußte auch, daß sie auf die Pflanzenwesen im Wasser angewiesen war, daß sie sie brauchte, um von ihrer Kraft zu zehren. Nur so konnte sie die Magie in sich zwingen, ihr zu Diensten zu sein.
Sie schuf geistige Kanäle, durch die magische Ströme mit der Geschwindigkeit von hundert Flutwellen schossen, und endlich bekam Geist sie unter ihre Kontrolle. Ein stummes Beben raste durch die erstarrten Wassermassen, als sich alles Leben in ihnen zusammenzog und etwas formte, das wie verlängerte Arme Geists Befehlen gehorchte.
Sie tastete nach Mütterchen, fand sie und trug sie auf den Wogen durchs Tor. Auch Löwenzahn packte sie, zerrte ihn an ertrinkenden Nordlingen vorbei zum Spalt, hinaus auf die Kreuzung, ins Trockene. Die Suche nach Alberich gestaltete sich schwieriger, war er doch kleiner als die anderen und inmitten der tobenden Wassermassen kaum auszumachen. Dennoch spürte sie ihn auf, wenn auch mit großer Verzögerung, und sie fürchtete schon, die Flut hätte ihn getötet. Doch als sie ihn in den sicheren Stollen zog, spürte sie seinen Herzschlag.
Zuletzt warf sie die Flügel des Portals zu, nicht mit dem Kurbelmechanismus, sondern kraft ihrer magischen Macht. Der Wasserstrom brach ab, Geist verlor die Verbindung zu den Pflanzenpartikeln, und sofort zog sich die Kraft in ihr zurück, in jenen abgelegenen Winkel ihrer selbst, auf den sie allein keinen Zugriff hatte.
Im Inneren der Halle floß der Zeitstrom zurück in seine alte Bahn, der nächste Augenblick brach an. Die Flut donnerte weiter und warf sich mit gewaltiger Macht gegen das Tor. Der Eingang erbebte, Wasserstrahlen schossen durch die Ritzen.
Auch für Geist beschleunigte sich die Zeit, doch sie bemerkte es nicht mehr. Sie spürte auch nicht die Hände ihrer Freunde, die sie hochhoben und bewußtlos durch einen der Stollen nach oben trugen, in die höheren Ebenen, hinauf in die Stille des Bergmassivs.
Epilog
Die Kammer, in der Geist den Horthüter fand, war klein und lag fernab aller großen Verbindungsflure. Sie hatte lange nach ihm gesucht, ihr Weg hatte sie durch weite Teile der oberen Ebenen geführt. Doch entdeckt hatte sie ihn letztlich nur aufgrund eines Zufalls.
Sie hatte sich verlaufen und war dabei in einen hohen, dunklen Korridor gelangt. Zu ihrer Rechten befand sich ein Durchgang, durch den sanfter Kerzenschein fiel; das Licht flackerte verloren über den Fels der gegenüberliegenden Wand.
Einen Moment lang stockt Geists Atem. Mütterchen und Löwenzahn waren oben am Eingang, das wußte sie genau. Alberich dagegen benötigte kein künstliches Licht. Wer also trieb sich hier unten herum? Gab es immer noch Nordlinge und Zwerge im Berg, die sich in diesem abgeschiedenen Winkel versteckten?
Sie faßte all ihren Mut und schaute zaghaft um die Ecke des Durchgangs. Erleichtert atmete sie auf. Es war Alberich. Der Horthüter stand mit dem Rücken zur Tür vor einem steinernen Sarkophag, der sich in der Mitte der Kammer auf einem Podest erhob. An den Rändern hatte er mehrere Kerzen aufgestellt. Ihre Flammen zitterten, als Geist langsam in den Raum trat.
Alberich schaute nur kurz über die Schulter, wandte ich dann wieder dem Sarkophag zu. Mit beiden Händen stützte er sich auf den Stiel seiner Goldgeißel.
»Verzeih«, sagte Geist leise. Etwas in ihr sträubte sich, neben ihn zu treten, und so blieb sie einige Schritte hinter seinem Rücken stehen. »Störe ich?«
Was für eine dumme Frage, durchfuhr es sie.
Alberich sprach, ohne sie anzusehen. »Früher bin ich jeden Tag hierhergekommen. Aber in den letzten zwei Jahre sind meine Besuche selten geworden.« Er zögerte. »Sie würde es verstehen«, fuhr er dann gedankenverloren fort. »Ich weiß, daß sie es verstehen würde. Der Berg hat Vorrang vor allem anderen, das hat sie selbst immer gesagt. Sie hat ihn geliebt, den Berg, jede Felsspalte, jeden Stein, jedes noch so kleine Relief. Wenn die Nordlinge ihn in ihre Gewalt bekommen hätten... das hätte alles zerstört, für das sie so sehr gelitten hat.« Alberich wandte sich kurz zu dem Moosfräulein um. »Ich habe ihr erzählt, daß unser Sieg dein Verdienst war.«