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Er sah plötzlich müde aus, und das war nicht allein eine Folge der Schlacht. »Wenn diese Schuld der Preis für unsere Freiheit ist, Grimma, dann bin ich bereit, ihn zu zahlen.«

»Aber der Eid unserer Ahnen, das Versprechen...« Ihre Hilflosigkeit erfüllte Grimma mit immer größerem Zorn. »Die Männer Nibelungs haben jede Gefahr, die sich uns von außen näherte, zurückgeschlagen. Sie haben dafür mehr als einmal mit ihrem Blut bezahlt. Habt Ihr das vergessen?«

Thorhâl nahm seine Helmkrone ab und fuhr sich durch sein buschiges Haupthaar. »Sie haben niemals für uns gekämpft, und das weißt du genau, Grimma. Sie taten es immer nur für ihr Gold, für diesen verfluchten Hort, auf dem wir sitzen wie ein Volk von Glucken.« Plötzlich fuhr er auf: »Verdammt, es ist mir gleichgültig, was die Schreiber einst über die Ehre und den Treuebruch des Königs Thorhâl berichten werden. Ich will, daß unsere Leute wieder ein Leben in Freiheit führen können. Das allein ist es, worauf es ankommt!«

»Und Ihr glaubt wirklich, daß am anderen Ende der Zwergenstraße die Freiheit auf uns wartet? Denkt Ihr das wirklich, nach diesen zwei Wochen des Sterbens und der zahllosen Niederlagen?«

»Am Ende haben wir gesiegt.«

»Und teuer wurde dieser Sieg erkauft, Thorhâl. Mit wie vielen weggeworfenen Leben? Mit wie vielen Witwen und Tränen und wie vielen Fässern voller Blut?« Sie schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Wir wissen nicht einmal, ob oben im Norden, in der alten Heimat, noch ein einziger Zwerg am Leben ist. Was, wenn die Nordlinge längst alle ausgerottet haben? Wir würden geradewegs in unser Verderben laufen.«

»Das werden wir nicht«, erklärte der König und atmete tief durch. »Auch deshalb wollte ich mit dir reden.«

Grimma starrte ihn schweigend an. Noch bevor er es aussprach, wußte sie, was er von ihr verlangen würde.

»Wir werden Späher durch den alten Tunnel nach Norden schicken«, fuhr er fort. »Wir werden herausfinden, wie es dort aussieht und ob unser Volk dort überleben kann.«

»Eine solche Expedition könnte Jahre unterwegs sein. Sie könnte zerschlagen werden und niemals zurückkehren.«

»Das darf um keinen Preis geschehen!« Thorhâl packte sie hart an den Schultern. »Und genau deshalb will ich, daß du sie anführst, Grimma!«

KAPITEL 1

Der Karren rumpelte schaukelnd den Berg hinauf. Prallgefüllte Säcke und Kisten waren auf seiner Ladefläche gestapelt, vor allem aber zahlreiche Fässer, die schon von weitem den herrlichen Duft von Wein und Bier verströmten. Obbo, der Gastwirt des Wolfswinkel, saß auf dem Kutschbock und fluchte über den langsamen Trab des Ponys, obwohl sich das Tier beileibe alle Mühe gab, den schweren Wagen den Pfad heraufzuziehen.

Mütterchen Mitternacht stand vor dem eisernen Portal des Hohlen Berges und blinzelte dem schwankenden Karren entgegen. Nach den Wochen im Inneren des Berges blendete sie das Tageslicht. Trotzdem lächelte sie, als sie sah, daß Obbo der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief, ganz so, als sei er selbst es, der die Last des Wagens zu ziehen hätte. Der dicke Wirt trug seine lederne Schürze und einen aus der Form geratenen Hut, von dem er behauptete, er würde die Mücken vertreiben; dabei war doch jedem seiner Freunde im Hohlen Berg klar, daß er damit nur sein schütteres Haar verbarg, mochte der Teufel wissen, vor wem.

Einmal in jedem Mond, manchmal auch öfter, kam Obbo und versorgte sie mit allem, was die vier Verteidiger des Nibelungenhortes nötig hatten: Gemüse, Pökelfleisch, Süßigkeiten für Löwenzahn und natürlich Kostproben aus Obbos vortrefflichem Weinkeller, dazu das würzige Bier, das er eigenhändig im Hinterhaus seines Gasthofs braute. Ohne ihn hätten die vier längst aufgeben müssen, vor allem während des ersten Jahres ihrer Wache im Hohlen Berg, als kaum ein Tag vergangen war, an dem nicht ein neuer Räuberhauptmann am Portal geklopft und die Herausgabe der Schätze verlangt hatte.

Heute, fast zwei Jahre nach dem Raub der Tarnkappe durch Siegfried von Xanten und der Suche der vier Gefährten nach dem Leichnam des letzten Drachen, waren die Angriffe auf den Berg seltener geworden. Dennoch war es nicht allein loses Geröll, das den Weg für Pony und Karren so beschwerlich machte. Der dichte Tannenhain vor dem Tor des Berges war übersät mit Teilen alter Rüstungen, mit alten Gerippen und den Kadavern der letzten Übermütigen, die Einlaß in den Berg gefordert hatten. Immer wieder holperten die Karrenräder über einen Helm oder leeren Brustpanzer, immer wieder stießen die Hufe des Tieres gegen modrige Schädel und verrostete Schilde. Obbo hatte seine Freunde oft angefleht, diesen »Unrat«, wie er es nannte, fortzuräumen, doch Alberich, der Horthüter, bestand darauf, alles liegenzulassen. Zur Abschreckung, meinte er, und Mütterchen gab ihm recht. Das hohe Eisenportal des Berges schützte sie vor dem erbärmlichen Kadavergestank des Schlachtfeldes, und Obbo wurde reichlich dafür entlohnt, daß er hier heraufkam; ein wenig Übelkeit mußte er dafür in Kauf nehmen.

»Obbo!« rief Mütterchen dem fluchenden Wirt entgegen, als er dem Pony mit einer Rute aufs Hinterteil klatschte. »Wann wirst du Geizkragen dir endlich ein Lastpferd kaufen? Der alte Rohland ist für solche Ausflüge zu alt geworden.«

Rohland, das Pony vor Obbos Karren, hatte ihnen vor zwei Jahren während ihrer Reise zum toten Drachen gute Dienste geleistet, und Mütterchen hatte das Tier ins Herz geschlossen. Sie hätte es dem Wirt längst abgekauft, wenn es denn eine Möglichkeit gegeben hätte, es im Hohlen Berg auf angemessene Weise zu halten. Doch in den unermeßlichen Tiefen des verlassenen Zwergenreiches gab es weder Gras noch Sonnenlicht, und sie hätte dem Tier schwerlich einen Gefallen getan, hätte sie es dort hinabgeführt.

Obbo hatte das Portal fast erreicht. Er grummelte irgendeine Antwort auf Mütterchens Zuruf, die sie nicht verstand, und das war wahrscheinlich gut so.

Der Wolfswinkel lag in den Wäldern am Ostufer des Rheins. Der Hohle Berg dagegen bildete, gemeinsam mit seinem Zwillingsgipfel, auf dem sich die verlassene Burg der toten Fürsten Nibelung und Schilbung erhob, eine Halbinsel mitten im Fluß, die nur über eine bewaldete Landbrücke zu erreichen war. Vor zwei Jahren hatte Siegfried die beiden Nibelungenfürsten und ihre tapfersten Ritter erschlagen und den Hort im Hohlen Berg für sich beansprucht. Alberich aber, der letzte Zwerg am Rhein, war weiterhin Hüter des Schatzes geblieben, bis zu jenem Tag, an dem Siegfried zurückkehren und den Hort abtransportieren würde. Der Xantener hatte dem Zwerg die magische Tarnkappe gestohlen, was Alberich vor die Schwierigkeit stellte, den Schatz ohne Zauberwerk verteidigen zu müssen. Drei Gefährten hatten sich ihm zur Seite gesellt: zum einen Mütterchen Mitternacht, ehemalige Räuberbraut und einstmals das schönste Weib der Wälder, heute eine rüstige Greisin - ein Wort, für das manch einer schon ein Ohr, einen Finger oder gar das Leben eingebüßt hatte. Dann war da Löwenzahn, ein tumber, aber liebenswerter Hüne, in dessen Adern ein Anteil Hunnenblut floß. Und zuletzt Geist, das rätselhafte Moosfräulein, auf das die Magie des toten Drachen übergegangen war; keiner vermochte genau zu sagen, ob in ihrem Inneren wirklich nur der Zauber oder auch ein Stück vom Drachen selbst weiterlebte.

»Ho!« rief Obbo aus und brachte den Karren vor dem haushohen Portal zum Stehen. Die mächtigen Torflügel waren mit filigranen Einlegearbeiten verziert. Albenschmiede hatten den einzigen Eingang des Hohlen Berges vor vielen Jahrhunderten geschaffen, damals, als noch ein ganzes Zwergenvolk in den unterirdischen Hallen und Fluren lebte.