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Doch das war lange her. Heute hauste hier nur noch ein einziger Zwerg, und der drängte sich in eben diesem Augenblick auf höchst unhöfliche Art und Weise an Mütterchen vorbei und trat aus dem Schatten des Torbogens. Seine gespannte Armbrust wies auf Obbos Wanst, so daß der arme Wirt ganz fahl um die Nase wurde.

Obbo hob die Hände und stotterte: »Freund Alberich, ich bitte dich allerfreundlichst, dich zu -«

Alberich raunzte mit grimmiger Miene dazwischen: »Hast du alles dabei, so wie ich es dir aufgetragen habe?«

Mütterchen verzog hinter dem Rücken des Zwerges das Gesicht. Wie ich es dir aufgetragen habe - pah! Hätte sie nicht regelmäßig Listen geschrieben und hinab zu Obbo ins Wirtshaus gebracht, würde ihnen allen schon längst der Magen knurren. Alberich hatte sich nie um dergleichen gekümmert. Aber sie wußte auch, daß es dem Zwerg gefiel, mit seiner Wildheit und Kratzbürstigkeit zu prahlen.

Mit einem Blick über Alberichs Schulter vergewisserte sie sich, daß die Armbrust gesichert war. Der Zwerg mochte damit noch so aufgebracht vor Obbos Nase fuchteln, der Bolzen würde sich nicht lösen. Alberich wollte Obbo nur einen Schrecken einjagen, wie er es regelmäßig tat, um den Preis zu drücken. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, daß er über einen Schatz von unermeßlicher Größe verfügte. Er knauserte mit jeder Münze, vor allem dem armen Obbo gegenüber.

»Ich habe alles dabei«, versicherte der Wirt. Das Pony stieß ein Schnauben aus, und Obbo zuckte zusammen, als hätte er das Geräusch mit dem Pfeifen der Armbrustsehne verwechselt.

Alberich lachte schadenfroh und senkte die Waffe. »Tut mir leid, Freund Obbo, aber es könnte immerhin sein, daß du Räuber an unser offenes Tor führst.«

»Das glaubst du nicht wirklich!« empörte sich der Wirt.

Der Zwerg stieß ein knarrendes Kichern aus. Mütterchen hatte allmählich Mitleid mit Obbo, der Alberichs Attacken nicht gewachsen war. Natürlich würde der Wirt sie niemals betrügen, ganz gewiß nicht freiwillig, und falls ihn irgendwer dazu zwingen sollte, würde man es ihm mit Sicherheit schon von weitem ansehen. Er war viel zu sehr Wirt mit Leib und Seele, um ein Geheimnis für sich behalten zu können, sogar mit einer Dolchspitze im Rücken.

Zu dritt luden sie die Waren vom Karren und trugen sie durch den offenen Spalt des Tores. Mütterchen verfluchte die Tatsache, daß Löwenzahn mit seinen Bärenkräften nicht bei ihnen war, doch der Halbhunne hatte sich mit Geist in die Tiefen des Berges zurückgezogen, um ein verstopftes Aquädukt zu bereinigen. Löwenzahn war gerne allein mit Geist, und manchmal hänselte Alberich ihn mit seiner Verliebtheit.

Nachdem sie mit dem Abladen fertig waren, kümmerte sich Alberich um die Bezahlung, während Mütterchen zu Rohland ging und ihm die Mähne streichelte. »Bist ein braves Tier«, flüsterte sie ihm ins Ohr und dann noch etwas, das niemand außer ihr selbst und dem Pony verstand. Die Jahrzehnte, die sie an der Spitze ihrer Räuberschar in den Wäldern gehaust hatte, hatten sie viele Dinge gelehrt. Eines davon war, mit Tieren zu sprechen. Sie wußte, daß Rohland jedes ihrer Worte verstand. Zärtlich sprach sie ihm Mut zu, wünschte ihm Kraft für den Rückweg und versprach ihm daheim im Gasthof eine Belohnung. Dann ging sie zurück zu den anderen, drückte Obbo eine Münze für eine große Portion Hafer in die Hand und umarmte ihn zum Abschied.

»Paßt gut auf euch auf!« rief der Wirt über die Schulter, als er den Karren durch den Tannenhain hangabwärts lenkte.

»Und du auf dich!«

Mütterchen und Alberich traten zurück in den Schatten des Tores, in die hohe, düstere Eingangshalle des Hohlen Berges. Alberich machte sich an einer Winde zu schaffen. Krachend schlossen sich die Torflügel, und das Echo hallte vielfach in den Abgründen der ausgestorbenen Zwergenstadt wider.

Nachdem das Tageslicht ausgesperrt war, sah Mütterchen einen Moment lang nichts mehr als Schwärze. Das sonderbare Zwielicht im Hohlen Berg war so schwach, daß sie eine Weile brauchte, ehe sie sich von neuem daran gewöhnte.

Man mag es drehen und wenden wie man will, dachte sie, aber dieser Berg ist nicht für uns Menschen geschaffen. Er will uns nicht in sich haben. Er wehrt sich gegen uns wie ein Körper, der eine Krankheit austreibt.

Sie fragte sich nicht zum erstenmal, wie lange es noch dauern mochte, bis das Fieber ausbrach.

Löwenzahn stand auf einem Felssims oben in der Wand der Halle, viel zu schmal für seine riesigen Füße. Geist wartete am Boden auf ihn. Der Halbhunne hatte ihr den Rücken zugewandt und beugte sich über eine Steinrinne, die in einer Höhe von zwei Mannslängen an der Wand entlangführte, eines der Hauptaquädukte für die Wasserversorgung im Hohlen Berg. Seit Tagen war es durch irgend etwas verstopft.

Auf dem weiten Hallenboden hatten sich große Pfützen gebildet. Geist suchte mißmutig nach einem Fleck, an dem sie keine nassen Füße bekommen würde. Sie trug keine Schuhe, auch Kleidung war ihr fremd. Ihr zierlicher Körper war mit einem Pelz aus grünbraunem Moos bewachsen, der es ihr draußen in den Wäldern erlaubte, wie ein Chamäleon mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Hier aber, in den Tiefen dieser abscheulichen Zwergenstadt, hatte sie diese Fähigkeit verloren. Sie wußte, daß es der Stein war, der ihr derart zusetzte. Sie war ein Moosfräulein, ein Waldgeist, und sie litt unter dem Gewicht des Berges. Der kahle Fels machte sie unglücklich, manchmal gar krank, und ohne ihre gelegentlichen Ausflüge hinaus in die Wälder wäre sie in der naßkalten Dunkelheit zugrunde gegangen. Auch die Magie des Drachen trug dazu bei, daß sie hier unten überleben konnte. Ein wenig von der Vorliebe des Lindwurms für tiefe Gebirgshöhlen war auf sie übergegangen, genug, um im Hohlen Berg existieren zu können.

»Was ist es?« rief sie zu Löwenzahn hinauf, der mit beiden Händen in der Rinne hantierte.

»Es wird dir gefallen!« rief er polternd. Die Wände warfen seine Stimme zurück, viel zu laut und zu häufig. Das unheimliche Echo der endlosen Hallen und Gänge machte Geist angst. Sie vermißte das Singen der Vögel und das Rauschen der Baumkronen weit mehr, als sie hätte in Worte fassen können.

»Wie meinst du das?« Sie rieb sich die Arme, aber auch dadurch wurde ihr nicht wärmer. Die Kälte, die sie spürte, kam von innen, aus ihrem Kopf, und das beunruhigte sie auch heute noch, nach zwei Jahren in diesem Felsenlabyrinth.

Etwas flog von oben auf sie zu. Geist erschrak und machte einen Schritt zurück. Ein feuchtes Knäuel klatschte vor ihr auf den Boden. Löwenzahn lachte wie ein zu groß geratenes Kind, verlor darüber plötzlich seinen Halt und rutschte ab. Mit einem wilden Aufschrei stürzte er zu Boden und landete mit dem Hinterteil in einer Pfütze. Nun war es Geist, die in Gelächter ausbrach. Löwenzahn knurrte etwas, stand schwerfällig auf und rieb sich das Steißbein.

Geist sprang flink auf ihn zu und streckte ihm ihre schmale, moosbedeckte Hand entgegen. »Komm schon«, sagte sie vergnügt und zog ihn mit sich zu der Stelle, an der das, was er von oben herabgeworfen hatte, gelandet war. Gemeinsam beugten sie sich darüber.

Obwohl Geist dem riesenhaften Halbhunnen nicht einmal bis zur Brust reichte, kam sie sich in seiner Gegenwart niemals klein vor. Sie mochte ihn gern, und natürlich war ihr nicht entgangen, daß er sie anhimmelte. Nachdem sie ihr ganzes Leben allein in den Wäldern verbracht hatte, war das eine sonderbare Erkenntnis. Manchmal, wenn sie ihm für etwas danken wollte, ließ sie eine bunte Blume aus ihrem Körper erblühen. Sie wußte, daß ihn das glücklich machte.

»Das ist Moos!« entfuhr es ihr erfreut, als sie das verschlungene Wirrwarr zu ihren Füßen betrachtete.

Löwenzahn nickte. »Moos und ein paar andere widerliche Pflanzen.«

Sie knuffte ihn mahnend gegen den Oberschenkel. »Magst du etwa kein Moos?«