Selbst im ewigen Halblicht des Hohlen Berges konnte sie sehen, daß er rot wurde. Sie kicherte leise und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem nassen Knäuel zu. Mit beiden Händen hob sie es vom Boden und schnüffelte daran. »Riecht merkwürdig«, gab sie zu.
»Das ist die Nässe«, meinte Löwenzahn. »Wahrscheinlich schimmelt das Zeug schon eine ganze Weile vor sich hin.«
»Schimmel!« stieß Geist wie einen Jubelschrei aus. »Pilze! Wunderbar! Glaubst du, es gibt hier noch mehr davon?«
Ein Seufzer stieg aus Löwenzahns mächtigem Brustkorb empor. »Wird es wohl, bei der Feuchtigkeit.«
»Aber ich habe in der ganzen Zeit noch keine einzige Pflanze hier im Berg gesehen, nicht die winzigste.«
»Es muß doch irgendwo eine Art Sammelbecken oder Quelle für die Wasserversorgung geben«, sagte Löwenzahn. »Vielleicht gibt es dort noch mehr davon.«
Geist richtete sich begeistert auf. »Aber ja doch!« rief sie. »Wir müssen diesen Ort suchen, ja?«
»Sicher«, meinte Löwenzahn ohne große Begeisterung. Seine Fell- und Lederkleidung war von der Arbeit am Aquädukt völlig durchnäßt, und der Gedanke an noch mehr Wasser war ihm zuwider.
»Schon gut«, meinte Geist verständnisvoll. Ihre Moosfinger streichelten hauchzart über seine narbige Wange, eine Bewegung, so schnell, daß er sie beinahe nicht bemerkt hätte. »Ich gehe allein.« Und im selben Augenblick hatte sie sich bereits herumgedreht und verschwand in der Dunkelheit unter dem nächsten Torbogen.
»Geist!« rief Löwenzahn ihr hinterher. »Warte auf mich!«
»Geh ruhig allein nach oben«, rief sie aus dem benachbarten Höhlensaal. Dann hörte er nicht einmal mehr ihre tänzelnden Schritte.
Löwenzahn stand allein in der riesigen Halle, wassertriefend und besorgt. Er fluchte, ganz leise nur, um das geisterhafte Echo nicht herauszufordern.
Geist war so erfreut über die Aussicht, irgendwo in den öden Weiten des Hohlen Berges Pflanzen aufzuspüren, daß sie eine Weile brauchte, ehe ihr klar wurde, daß sie mit einemmal ganz auf sich gestellt war.
Sie selbst, Mütterchen und Löwenzahn hatten es sich zur Regel gemacht, niemals einzeln durch das untergegangene Zwergenreich zu streifen. Im Gegensatz zu Alberich, der sein ganzes Leben allein im Berg verbracht hatte, fiel es ihnen schwer, in den labyrinthischen Anlagen die Orientierung zu behalten. Sicher, es gab die schmalen Wasserrinnen im Boden, die einem anzeigten, in welcher Richtung der Weg nach oben oder unten führte, doch waren da ansonsten weder Pfeile noch andere Wegmarken, die es einem gestatteten, sich zurechtzufinden.
Geist folgte auf der Suche nach einem Wasserbecken dem Verlauf des Aquädukts. Immer wieder verschwand die breite Rinne inmitten der Wände. Anders als für die schmalen, weitverzweigten Rinnsale am Boden hatte man für die Wasserleitung den schnellsten Weg nach unten geschaffen. Geist mußte zahlreiche Umwege in Kauf nehmen, in der Hoffnung, das Aquädukt auf der anderen Seite der Mauern und Monumente wiederzufinden.
Einmal kam sie an einen bodenlosen Abgrund. Von unten wehte ein eisiger, übelriechender Wind herauf. Die Böen schienen mit unsichtbaren Fingern nach ihren Gliedern zu tasten, als wollten sie sie hinab in die Tiefe zerren. Es gab weit und breit keine Brücke, allein das Aquädukt reichte von einer Felskante zur anderen. Es war auf eine einzelne Säule gestützt, die endlos hinab in die Tiefe abfiel, und bei genauem Hinsehen erkannte Geist, daß schmale Stufen rund um die Säule nach unten führten. Es gab viele solcher sinnloser Treppen und Stiegen im Hohlen Berg, Stufen, die scheinbar ins Nichts wiesen, inmitten glatter Steilwände endeten oder als Sackgassen vor kahlen Mauern. Das gleiche galt für die verwinkelten Tunnel und Flure. Wer sich, wie Alberichs drei Gefährten, nicht auskannte, mußte jederzeit damit rechnen, hinter der nächsten Biegung vor einer Wand oder einem tiefen Felsenschlund zu stehen. Die Zwerge waren ein sonderbares Volk, und noch sonderbarer waren die Gedankengänge ihrer Baumeister. Geist, die alles an den Gesetzmäßigkeiten der Natur und des Waldes maß, fand keinen Zugang zur Denkweise dieser Wesen, schlimmer noch, die Absurdität ihrer Architektur erfüllte sie mit Unruhe.
Vorsichtig näherte sie sich dem Abgrund und der Wasserrinne, die ihn überspannte. Sie setzte einen Fuß in das offene Aquädukt und zitterte, als das eiskalte Wasser ihre Haut umspülte. Nach einem tiefen Luftholen begann sie, zur anderen Seite zu balancieren, geradewegs über den schwarzen Schlund. Geist war es gewohnt, über die Äste der Bäume zu klettern, und so behielt sie auch jetzt mühelos ihr Gleichgewicht. Manchmal schien es ihr, als rührte sich etwas in der Finsternis unter ihr, vielleicht die Schwärze selbst; und doch ängstigte sie die absolute Leere weit mehr als die Vorstellung, daß etwas darin lauern mochte. Erstens war der Berg verlassen, das hatte Alberich ihnen versichert, und was immer Geist dort unten sehen mochte, konnte nur ein Wesen ihrer überreizten Phantasie sein; zum zweiten aber flößten ihr nach ihrem behaglichen Leben im Wald große, leere Räume Furcht ein, und davon gab es wahrlich genug in dieser schrecklichen Höhlenwelt.
Sie erreichte die andere Seite ohne Zwischenfälle. Dort entdeckte sie, daß sich die Wasserrinne mit einem zweiten Aquädukt vereinigte und in einer mannshohen Öffnung verschwand. Zu ihrer maßlosen Freude entdeckte sie an den Rändern weitere Spuren von Moos und Algen, und sie hatte jetzt keine Zweifel mehr, daß sie an ihrem Ziel tatsächlich finden würde, was sie suchte.
Ohne länger zu zögern, stieg sie durch die Öffnung in einen abschüssigen Kanal, in dem ihr das Wasser bis zu den Knien reichte. Die Strömung war hier schneller und riß sie mehrmals fast von den Füßen. Dennoch dachte Geist nicht daran umzukehren. Irgendwo vor ihr, unter ihr, befand sich ein Ort, an dem sie sich erstmals seit zwei Jahren wieder ein wenig wie zu Hause fühlen würde.
Löwenzahn fluchte noch immer, von Mal zu Mal lauter, und allmählich verlor das Echo seine Schrecken. Der Widerhall seiner Flüche wurde ihm zum ständigen Begleiter, und das milderte ein wenig das Unbehagen, das er angesichts der Einsamkeit in den düsteren Katakomben empfand.
Geists nasse Fußabdrücke hatten ihn ein gehöriges Stück tiefer in den Irrgarten der Hallen und Gänge geführt, doch irgendwann verblaßte die Feuchtigkeit, und die Spur endete im Nichts.
Eines der Wunder des Hohlen Berges war es, daß nahezu jeder seiner Winkel von diffusem Zwielicht erfüllt war. Mütterchen behauptete, es dränge geradewegs aus den Wänden, genauso wie die Nässe, doch Alberich bestand darauf, daß es der Glanz des Nibelungenhortes sei, der den Berg durchleuchtete. Freilich lag der Schatz an der tiefsten Stelle des Zwergenreiches, und es hätte eines ausgefeilten Netzes aus Spiegeln bedurft, um seinen Glanz im ganzen Berg zu verbreiten. So blieb die Wahrheit über das wundersame Halblicht ungeklärt.
Für Löwenzahn hatte das Ganze ohnehin keine Bedeutung. Hauptsache, er konnte erkennen, wohin er die Füße setzte - und das war leider nicht immer der Fall. Das Licht nämlich schien für die empfindlichen Augen der Zwerge gemacht, nicht aber für die weit groberen der Menschen. Und gerade jetzt, während seiner Suche nach Geist, hätte er gegen eine Fackel oder Öllampe nichts einzuwenden gehabt.
Nach einer Weile gelangte er an einen Abgrund, und dort sah er gerade noch, wie eine zierliche Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite in einem runden Schacht verschwand. Geist mußte an dem Aquädukt entlanggeklettert sein, das sich über die Tiefe spannte. Löwenzahn mußte nicht einmal einen Fuß darauf setzen, um zu wissen, daß die Konstruktion aus Tonziegeln für ihn selbst viel zu schmal und baufällig war. Er rief Geists Namen, doch sie war bereits fort. Abermals fluchte er, und das Echo schien ihm aus der Tiefe zu antworten, nicht mit einer Wiederholung, sondern mit eigenen unverständlichen Silben. Löwenzahn lief es eiskalt den Rücken hinunter.