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Er wandte sich nach rechts und ging lange Zeit an der schroffen Felskante entlang. Endlich, als er das Aquädukt bereits nicht mehr hinter sich sehen konnte, stieß er auf eine steinerne Brücke. Sie war nicht breit und schien ihm keineswegs vertrauenserweckend. Mit vorsichtigen Schritten lief er zur anderen Seite und kam dort wohlbehalten an. Von dort aus rannte er so schnell er konnte zurück zum Aquädukt und zu der Öffnung, in der er Geist hatte verschwinden sehen. Als er den Schacht erreichte, rief er noch einmal den Namen des Moosfräuleins, doch auch diesmal bekam er keine Antwort.

Mißmutig prüfte er mit den Fingern die Wassertiefe des Kanals, dann zuckte er seufzend mit den Schultern und stieg hinein. Er mußte sich während des ganzen Weges in der Röhre bücken, um nicht mit dem Kopf anzustoßen, und ihm fielen kaum mehr neue Flüche ein, mit denen er seine verdammenswerte Lage bedenken konnte. Er würde ein ernstes Wort mit Geist reden müssen, wenn er sie denn jemals in diesem Wirrwarr aus Tunneln, Schächten und Sälen wiederfand.

Er verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Wie lange lief er dem Moosfräulein nun schon hinterher? Bald einen halben Tag, fürchtete er, und da der Weg beständig abwärts führte, mußte dies bedeuten, daß er in Kürze den alten Wohnbereich der Zwerge verlassen und in die leerstehenden Minenschächte vordringen würde. Dort unten aber, das wußte er von gelegentlichen Abstiegen an Alberichs Seite, fiel es noch schwerer, den Überblick über Richtung und Entfernung zu behalten.

Er kam an eine Gabelung, an der sich zwei weitere Kanäle mit jenem, den er benutzte, vereinigten. Das Wasser stieg noch höher und floß immer schneller, ohne daß der Hauptkanal breiter wurde. Mittlerweile reichte die Oberfläche bis zu Löwenzahns Hüften, und er begann, erbärmlich zu frieren.

Und dann, als er schon glaubte, daß er niemals an ein Ende der Wasserwege gelangen würde, spuckte ihn der Kanal in einen unterirdischen See. Löwenzahn wurde von der Strömung unter die Oberfläche gerissen, schluckte Wasser und schlug voller Panik um sich, bis es ihm endlich gelang, zurück an die Oberfläche zu gelangen und sich umzuschauen.

Er befand sich in einer domartigen Grotte, deren Wände unbehauen und über und über mit Moos und einer Art Efeu bewachsen waren. Die Decke vermochte er nicht zu erkennen, so hoch schwebte sie über ihm; sie verschmolz in der Ferne mit dem grünlichen Zwielicht. Der See war nicht besonders groß, vielleicht dreißig Schritte von einer Seite zur anderen. Allerdings bemerkte Löwenzahn am gegenüberliegenden Ende einen Strudel, der auf den ersten Blick harmlos wirkte, wohl aber groß genug war, um einen ausgewachsenen Menschen in die Tiefe zu ziehen. Offenbar hatte Löwenzahn Glück gehabt, daß er an dieser Seite hineingespült worden waren. Mindestens zwei Dutzend Kanäle mündeten rund um den See in die Grotte, und aus allen rauschte das Wasser in weißen Säulen hinab zur aufgeschäumten Oberfläche.

Löwenzahn war alles andere als ein geübter Schwimmer, trotzdem gelang es ihm, mit unbeholfenen Arm- und Beinstößen zum Ufer zu gelangen. Der sichtbare Teil des Sees nahm nur etwa zwei Drittel des Höhlenbodens ein, der Rest bestand aus einer glatten Felsplatte. Sie schien über der Wasseroberfläche zu schweben, denn der See setzte sich unter ihr fort, aber das erkannte Löwenzahn erst im Näherkommen. Nur um Haaresbreite gelang es ihm, einer plötzlichen Strömung zu entkommen, die ihn unter die Felsscholle ziehen wollte.

Prustend und keuchend zog er sich ins Trockene. Das seltsame Dämmerlicht schien hier noch eine Spur düsterer zu sein als in den höhergelegenen Ebenen des Berges, und so erkannte er die kleine Gestalt vor der moosüberwucherten Wand erst beim zweiten Hinsehen.

»Geist!« rief er erleichtert aus. »Da bist du ja!«

Die Gestalt schrak zusammen, ein schwarzer Scherenschnitt vor dem Dunkelgrün der Mooswand, machte erst einen Schritt auf Löwenzahn zu, dann wandte sie sich plötzlich ab und stürmte zum entfernten Rand der Felsscholle.

Löwenzahn sprang auf und lief verständnislos hinterher, rief immer wieder Geists Namen, doch die Gestalt rannte weiter vor ihm davon, blieb noch einmal an der Kante der Scholle stehen und stürzte sich dann kopfüber in die Fluten.

Löwenzahn schrie auf und wollte hinterherspringen, ungeachtet des nahen Strudels und der gefahrvollen Strömungen, als plötzlich hinter ihm ein helles Stimmchen fragte: »Was tust du denn hier?«

Er fuhr herum, und da stand Geist, am anderen Ende der Scholle, unweit eines schmalen Durchgangs in der Felswand. Ihr Moospelz war trocken, und ihre hellblauen Augen glänzten wie Himmelssplitter.

»Bist du mir den ganzen Weg hinterhergelaufen?« fragte sie laut, um den Lärm des sprudelnden Wassers zu übertönen. Eilig huschte sie näher.

Vor Erleichterung vergaß Löwenzahn für einen Moment die Frage, wer sich gerade vor seinen Augen in den See gestürzt hatte. Er umarmte das Moosfräulein herzlich, und die Begeisterung in ihrem Blick trieb ihm fast die Tränen in die Augen.

»Siehst du das?« rief sie euphorisch aus und umfaßte mit einer weiten Geste die ganze Grotte. »All diese herrlichen Pflanzen! Das ist Moos, Löwenzahn! Echtes Moos!« Sie löste sich von ihm und sprang aufgeregt umher. »Daß es tatsächlich zwei Jahre dauern mußte, um diesen Ort zu finden! Sag selbst, ist das alles nicht wunderschön?«

Löwenzahn nickte, auch wenn er in Wahrheit wenig beim Anblick der feuchtglänzenden Moos- und Pilzkulturen an den Wänden empfand. Er wollte Geist nicht die Freude verderben, und doch konnte er nicht anders, als an die Kante der Scholle zu treten und hinab zur Wasseroberfläche zu blicken. Er suchte etwas, einen Schemen, Luftblasen vielleicht, irgend etwas, das ihm bewies, daß ihm seine Augen vorhin keinen Streich gespielt hatten. Er hatte jemanden gesehen. Oder hatten ihn das schwache Licht und die ungewohnte Umgebung getäuscht?

»Hast du irgendwas im Wasser verloren?« fragte Geist verwundert.

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.« Löwenzahn verstand im Lärm der Kanäle kaum seine eigenen Worte.

»Ach, komm schon!« rief sie ausgelassen und faßte ihn am Arm. »Ich zeige dir noch etwas.«

Sie führte ihn zu dem schmalen Durchlaß im Fels. Dahinter lag eine zweite Grotte, viel kleiner als die erste. Wände und Decke waren hinter dichten Vorhängen aus Pflanzen verborgen, langen, kleinblättrigen Ranken, die an manchen Stellen bis zum Boden baumelten. Die Luft in der kuppelförmigen Grotte war drückend vor Feuchtigkeit und Wärme.

Löwenzahn sah sich verblüfft um. »Warum ist es so heiß hier drinnen?«

»Von den Wänden fließt warmes Wasser«, meinte Geist schulterzuckend. »Irgendwo muß eine heiße Quelle sein. Ist das nicht herrlich?«

Insgeheim schauderte Löwenzahn. Er hatte schon von heißen Quellen erzählen hören, auch von feuerspeienden Bergen, aus denen glühendes Gestein hervorplatzte wie Eiter aus einer Pestbeule. Mit einemmal fühlte er sich hier unten trotz der Wärme alles andere als wohl. Er wünschte sich, er hätte Geist überzeugen können, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Aber er wußte auch, daß sie viel zu glücklich war, um seine Sorgen teilen zu können.

Geist tanzte umher wie ein kleines Mädchen beim ersten Schneefall, sprang fröhlich von Ranke zu Ranke, legte sich die Enden wie Schmuck um den Hals und lachte vergnügt.

»Glaubst du«, fragte Löwenzahn argwöhnisch, »daß es hier unten irgendwelche Tiere gibt?«

»Ich habe keine gesehen«, erwiderte Geist, ohne von ihrem Spiel mit den Pflanzen abzulassen. »Sag bloß, du fürchtest dich?«

»Niemals!« grollte er. »Löwenzahn hat bestimmt keine Angst vor Kraut, das von der Decke wächst.«

»Dann komm her und faß es an.«

Löwenzahn blieb am Eingang der Grotte stehen. »Ich glaube, wir sollten besser wieder nach oben gehen. Die anderen werden sich Sorgen machen. Es wird Abend sein, bis wir bei ihnen sind.«