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Geist verzog das Gesicht. »Nur noch ein wenig.«

»Willst du, daß sie uns suchen müssen?«

Sie seufzte schwer, dann drehte sie sich um und rieb eine der Ranken zärtlich an ihrer Wange. »Ich verspreche euch, daß ich wiederkomme«, sagte sie zu den Pflanzen. »Gleich morgen.«

Löwenzahn faßte insgeheim den Entschluß, daß er sie niemals allein hierhergehen lassen würde. Noch immer rätselte er, was sich da vor seinen Augen in den See gestürzt hatte. Er fragte sich, ob es vielleicht im schmalen Hohlraum unter der Felsscholle wartete, bis sie fort waren.

Narretei, schalt er sich. Niemand hätte der Strömung standhalten können. Geist und er hatten lediglich Glück gehabt, daß sie an einer Stelle im See gelandet waren, die ungefährlich war. Ein paar Schritte näher am Strudel, und keiner von ihnen hätte überlebt.

Das brachte ihn gleich zur nächsten Schwierigkeit. »Wie sollen wir eigentlich wieder hier herauskommen?« Der Wasserstrom aus den Kanälen war viel zu stark, um von außen hineinzuklettern.

Geist lächelte. Inmitten ihrer bemoosten Züge wirkten ihre Zähne unnatürlich weiß. »Schau«, sagte sie und sprang zwischen den Ranken zur anderen Seite der Grotte. Als sie mit beiden Händen einen Teil des naßglänzenden Dickichts beiseiteschob, kam ein schmaler Riß im Felsen zum Vorschein. Dahinter führten grob behauene Stufen nach oben.

»Was hältst du davon?« fragte sie triumphierend und trat durch die Öffnung.

Löwenzahn schaute sich ein letztes Mal zur großen Grotte um, sah nichts außer Stein und tobender Strömung, dann folgte er Geist. Die Ranken, die ihn streiften, fühlten sich an wie die feuchten Finger einer Wasserleiche. Geist lief voraus, die engen Stufen hinauf. Der Treppenschacht umschloß sie mit kaltem, ödem Fels. Löwenzahn hätte nie geglaubt, daß er dafür einmal dankbar sein würde.

KAPITEL 2

Trommeln. Trommeln in der Tiefe!

Alberich schrak auf. Er lehnte an der Innenseite des Portals, und die Kälte des eisernen Torflügels biß wie Ameisengift in seinen Rücken. Einen Augenblick lang war er verwirrt, wußte nicht, wo er sich befand. Dann dämmerte es ihm: Er war während seiner Nachtwache am Tor eingeschlafen. Und als wäre das nicht Schande genug, hatte er dabei noch seine Waffe fallengelassen. Hastig hob er die Geißel mit den sieben goldenen Stachelkugeln vom Boden auf und sah sich um. Gut, niemand hatte bemerkt, daß er eingenickt war. Die anderen lagen in ihren Quartieren, weiter unten im Berg.

Sein nächster Blick ging durch die Sichtluke nach draußen, über den winzigen Vorplatz hinweg zum dunklen Tannenhain. Der Mond schien hell vom Nachthimmel herab und überzog die Wipfel mit Silbertau. Keine Menschenseele war zu sehen, nur ein Uhu gurrte leise im Geäst.

Trommeln!

Die Erinnerung kehrte auf einen Schlag zurück. Er hatte Trommeln gehört!

Ach was, er mußte geträumt haben. So sehr er jetzt auch horchte, er hörte doch nur seinen eigenen Atem und das Blut, das in seinen Ohren rauschte.

Er hätte es niemals zugegeben, nicht unter der schrecklichsten Folter, aber er war froh, daß er seine drei Gefährten hatte, mit denen er sich die Wacht über den Hohlen Berg teilen konnte. Nicht, daß er ihnen je offen dafür gedankt hätte - sie wären nur übermütig geworden, und überhaupt, lieber hätte er sich eigenhändig die Zunge herausgeschnitten -, doch ohne sie wäre der Nibelungenhort längst in die Hände von Dieben und Raubrittern gefallen. All die Angriffe, die sie in den vergangenen zwei Jahren gemeinsam abgewehrt hatten, all die Kämpfe, all das Blutvergießen - er allein wäre dem nicht gewachsen gewesen.

Daß er neuerdings während der Nachtwache am Tor einnickte, war nur ein weiterer Hinweis darauf, daß seine Kräfte nachließen. Er war nicht mehr der junge Zwerg, der einst mit Hilfe der Tarnkappe den Berg vor Eindringlingen bewahrt hatte. Schon seine schmähliche Niederlage gegen den Xantener hatte angekündigt, daß auch der größte aller Zwergenkrieger älter wurde. Als nächstes würden die Gelenke knirschen, der Rücken schmerzen, die Hand zittern. Sogar sein Bart würde schütter werden.

Der Traum hatte eine Erinnerung in ihm geweckt. An etwas, das ihm jemand erzählt hatte, vor vielen, vielen Jahren. Etwas aus seiner Kindheit, über Angriffe aus dem Inneren der Erde, über einen Feind, der so grausam war, daß die Zwerge ihn nur mit Glück und dem Beistand der Götter hatten zurückschlagen können. Das war noch zu Zeiten des alten Thorhâl gewesen, des letzten Königs unter dem Berg. Thorhâl der Schwächling. Thorhâl der Verräter, wie die Nibelungen ihn genannt hatten. Und Alberich hatte ihnen beigepflichtet.

Er betrachtete die Goldgeißel in seiner Hand, die sieben glänzenden Stachelkugeln, lauschte auf das zarte Klirren, wenn sie aneinanderschlugen. Er hatte schon mit dieser Waffe gekämpft, als seine drei Gefährten noch nicht geboren waren. Alberich war um ein Vielfaches älter als sie, und doch hatte er in seinem langen Leben nichts gesehen als das Innere des Hohlen Berges und den Weg über die Landbrücke zu Obbos Gasthof. Erst seine Reise zur Drachenhöhle hatte ihn für eine Weile von hier fortgeführt, und seine Erinnerung daran war wenig erquicklich. Die Ereignisse dort hatten ihn beinahe das Leben gekostet.

Vielleicht war ja alles vorherbestimmt. Vielleicht hatten die Götter nicht gewollt, daß er den Hohlen Berg verließ.

Nun, er hatte die Lektion begriffen.

Trommeln!

Alberich ließ die Geißel fast ein zweites Mal fallen. Es war kein Traum! Diesmal hatte er die Laute ganz deutlich gehört. Zwei, drei pochende Trommelschläge, die im Echo des Berges ein geisterhaftes Eigenleben gewannen. Das konnte nicht sein! Durfte nicht sein!

Mit bebenden Fingern verriegelte er die Sichtluke des Portals, eilte dann durch die riesige Eingangshalle mit ihren haushohen steinernen Türwächtern bis zum Absatz einer breiten, flachstufigen Treppe. So schnell wie nie zuvor sprang er sie hinunter, erreichte eine Plattform über einem tiefen Abgrund und nahm dort eine Abzweigung in einen Seitengang. Hier befanden sich, hinter Vorhängen aus grobem Stoff, die Schlafquartiere der Gefährten.

Alberich riß Löwenzahns Vorhang zur Seite, baute sich vor dem Lager des Halbhunnen auf und rüttelte kräftig an dessen Schultern; sie waren fast so breit, wie Alberich hoch war.

Der Krieger öffnete knurrend ein Auge. »Was willst du?«

»Du mußt hoch zum Tor, meine Wache übernehmen!« rief Alberich atemlos. »Sofort!«

Löwenzahns Auge fiel wieder zu. »Ja, ja.« Und schon schlief er weiter. Alberich schüttelte ihn und fluchte. Vergebens. Löwenzahn und Geist waren erst am späten Abend zurückgekehrt, vollkommen erschöpft, und schon nach wenigen Worten waren sie in ihren Quartieren verschwunden. Wahrscheinlich würde Löwenzahn auch dann weiterschlafen, wenn der Berg um ihn zusammenbrach.

Alberich sprang zurück auf den Gang und versuchte es bei Mütterchen. Die alte Räuberin war in Windeseile hellwach, obgleich sie keinen Zweifel daran ließ, daß ihr die Störung alles andere als behagte.

»Du bist eine Plage, Alberich Horthüter!« schimpfte sie und rieb sich die Augen.

»Bitte«, flehte er, »übernimm meine Wache am Tor. Ich muß hinunter zum Hort.«

Mütterchen riß die Augen auf. »Mitten in der Nacht?«

»Ich habe -« Und er brach ab, um zu überlegen, ob er Mütterchen von den Trommelschlägen erzählen sollte. Er beschloß, vorerst zu schweigen. Mütterchen würde ihm nur vorwerfen, daß er eingeschlafen war und geträumt hatte. »Es ist wichtig«, sagte er deshalb nur und hoffte, Mütterchen würde keine weiteren Fragen stellen.

Tatsächlich seufzte sie nur und stand auf. Soviel Gleichmut war für sie höchst ungewöhnlich und mußte daran liegen, daß sie noch immer furchtbar müde war.