Wieder schrieb Hartung ein paar Zeilen an Angela. Er sah ihren Kopf hinter dem Glas der Werterkabine neben dem dicken Schädel Graf Hellbergs. Er winkte zu ihr hinauf, aber sie blickte konstant in eine andere Richtung.
«Ich liebe Dich«, schrieb er, das Papier auf Laskas Sattel gelegt.»Laß uns miteinander sprechen. Alles ist ein Irrtum. Warum glaubst Du mir nicht?«
Und diesmal brachte Romanowski eine kurze Antwort.
«Wann heiraten wir?«
Die Schicksalsfrage, vor der Hartung blind und taub wurde. Er faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Rocktasche.»Was soll ich tun, Laska?«fragte er.»Wenn wir hier gewinnen, frißt uns der Betrieb auf. Wie können wir da heiraten?«
Der dritte Umlauf begann mit einem Sturz von d'Inzeo. Piero La-borta aus Argentinien riß zweimal. Die Engländerin Miss Haughs mußte vom Parcours, weil ihr Pferd >Blue Bell< dreimal verweigerte. Der Deutsche Bornemann riß einmal, dann lahmte sein Pferd, und er mußte ebenfalls aus der Bahn.
Nummer 13. Horst Hartung auf >Laska<.
Nur drei Hindernisse. Die Mauer mit 1 Meter 90, ein Steilsprung mit 1 Meter 80, ein Oxer mit 1 Meter 80.
Und wieder riß Laska, den letzten Sprung, nur ein Antippen der Stange. Sie war so lose gelegt, daß sie sofort fiel.
Aber auch Pessoa riß, und so blieben sie allein übrig für das dritte Stechen, den vierten Umlauf.
Nur ein einziges Hindernis, das Ende dieses nervenzermürbenden und kräftefressenden Kampfes.
Die Mauer.
2 Meter 10 hoch.
Wer sie überwand, war Sieger. Wenn beide sie rissen, gab es zwei Sieger. Wenn beide sie überwanden, gab es zwei Sieger. Es war unmenschlich, was man den Pferden jetzt zumutete. Ein neues Stechen war unmöglich.
Zur Verblüffung der Zuschauer ritt Pessoa zuerst ein. Sofort schwirrten wilde Gerüchte durch die aufgeregte Menschenmenge.
Laska hat sich verletzt. Hartung tritt nicht mehr an. Aber warum dann noch dieser Ritt? Wenn keiner mehr reitet, ist Pessoa doch Sieger.
>White Star< unter Pessoa umkreiste die riesige Mauer. Man sah dem Reiter an, daß er vor Nervosität bebte. Darum hatte er auch um den ersten Sprung gebeten. Seine Nerven zersprangen fast. Graf Hellberg hatte Hartung um Erlaubnis gebeten, und Hartung hatte gesagt:»Gut, soll er vorher springen. Ich habe die Nerven dazu.«
Dann stand er am Fuß des Turnierleiterturms und sah Pessoa zu. Neben ihm stand Romanowski mit Laska. Sie trug plötzlich eine rote Rose hinter dem linken Ohr. Hartung entdeckte sie, als er Las-ka den Hals klopfen wollte.
«Was soll das?«fragte er.
«Kam plötzlich jeflogen wie 'n Vogel«, sagte Romanowski und lächelte breit.»Oder wie 'n Engel.«
«Angela?«Hartung zog die Rose aus dem Riemen und einen kleinen Zettel dazu.
«Ich zittere mit Dir. Ich verzeihe Dir alles, wenn Du gewinnst.«
«Hörst du das, Laska?«sagte Hartung leise und las dem Pferd die Worte vor.»Jetzt mußt du in den Himmel springen.«
Pessoa ritt an. >White Star< streckte sich, hob ab, flog in herrlicher Haltung durch die Luft, aber er schaffte die 2 Meter 10 nicht. Polternd fiel die obere Mauerreihe ab.
Pessoa legte sich tief über den Hals seines Pferdes und ritt hinaus. Er war erlöst.
Horst Hartung saß auf. Fallersfeld gab ihm die Hand.»Junge, ich möchte dir ins Gesicht spucken, wenn es Glück bringt«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich greisenhaft.
Nummer 13. Horst Hartung auf >Laska<.
In dem weiten Rund des Aachener Springplatzes herrschte Stille wie vor einem Taifun. Langsam ritt Hartung an der Haupttribüne vorbei. Er sah Luisa Gironi ganz vorn sitzen. Ihr breitkrempiger roter Hut leuchtete hell zwischen dem Weiß der Hemden und den hellen Damenkleidern. Ihre Blicke trafen sich, und langsam, ganz langsam nahm sie die Sonnenbrille ab und zeigte ihr zerstörtes Gesicht.
Hartung nickte, wendete und ritt auf die drohende, unüberwindliche Mauer zu.
2 Meter 10.
So hoch war Laska noch nie gesprungen. Auf diese Höhen hatte er sie nicht trainiert. Sie waren Mord an einem so jungen Pferd. Jetzt aber, ein einziges Mal, galt es, die Gesetze der Vernunft zu durchbrechen.
«Mein Mädchen«, sagte Hartung leise und beugte sich zu Laskas Ohren vor. Sie wedelte mit ihnen, als verstehe sie jedes Wort.»Wenn du da 'rüberkommst, gehören wir zusammen, bis einer von uns umfällt. Und nun los, du liebes Luder.«
Der Angalopp, zuerst langsam, dann schneller, immer schneller. Ein goldener fliegender Pfeil. Die Mauer, mein Gott, die Mauer. Nie kommen wir da rüber, nie. Laska, brich aus, brich zur Seite aus. Tu mir den Gefallen, spring nicht. Renn an dieser verfluchten Mauer
vorbei. Wir brechen uns den Hals. Laska, mein Schätzchen, mein Liebling, spring nicht.
Hartung gab die Zügel frei. Jetzt bricht sie aus, dachte er. Jetzt ist sie sich selbst überlassen. Und jedes Pferd hat Angst vor einem solchen Sprung. Laska, nicht springen!
Es war, als schwebte Hartung plötzlich. Er hielt sich im Sattel, warf sich instinktiv nach vorn und umklammerte die Zügel. Das ist nicht möglich, dachte er dabei. Das träume ich jetzt. Sie hat Flügel bekommen. Laska. Laska.
Der Boden hatte sie wieder. Der Aufprall warf Hartung zurück, wie betäubt ritt er weiter, umbraust von einem Jubelschrei, der über ihm zusammenschlug wie eine riesige Woge.
2 Meter 10. Wer kann das begreifen?
Er ritt vom Platz, rutschte aus dem Sattel in die Arme von Fallersfeld und vergrub sein Gesicht an dem schweißnassen Hals von Laska. Er hörte Romanowski brüllen wie einen Stier, und er hörte Angelas Stimme, die immer wieder rief:»Laßt ihn doch in Ruhe! Laßt ihn doch! Er kann nicht mehr, seht ihr das denn nicht?«
Hartung legte beide Arme um Laskas Hals, und wie immer in den vergangenen zwei Jahren streichelte sie mit ihren weichen Nüstern seinen Nacken.
Das Wunderpferd Laska war geboren. Die Welt lag offen vor ihnen — eine Welt, die sie feierte, als hätten sie einen neuen Planeten erobert.
Eine gnadenlose Welt, die jetzt nur noch Siege sehen wollte.
Besuch um Mitternacht
Seit Tagen sprach man in Rom von nichts anderem als von der Coppa d'Italia, dem größten Reiterpreis, den Italien zu vergeben
hat. Kolonnen von Anstreichern und Gärtnern brachten das Stadion auf Hochglanz, die Tribünen glänzten weiß in der Sonne, die amphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen wurden repariert, an hundert Fahnenstangen flatterten die Fahnen von siebzehn Nationen im heißen römischen Wind. Die Hindernisse wurden aufgebaut.
Mit Güterzügen und in langen Wagenkolonnen trafen die Pferde und Reiter ein. Auf den Flugplätzen landeten die schweren Transportmaschinen. Vermummte, bandagierte Tiere kletterten vorsichtig aus den Spezialboxen. Pferde, behütet wie wertvolle Diamanten, betreut von Pflegern, die nichts auf der Welt kannten als ihren Pflegling, wurden umgeladen in die fast luxuriösen Transporter. Millionenwerte auf vier Beinen — oder Stolz des Landes, das sie auf dem Parcours vertraten.
Im Zimmer 19 des Hotels >Michelangelo< saßen um diese Zeit vier ehrenwerte Herren. Sie tranken Fruchtsäfte, rauchten ägyptische Zigaretten, fächelten sich mit Zeitungen Luft zu und schwitzten ausgiebig. Vor der Zimmertür hing ein Schild >Bitte nicht stören<, und bei dem, was diese Herren besprachen, durften sie auch nicht gestört werden.
«Wir haben vierzig Millionen Lire zu verlieren«, sagte ein dicker, kleiner Mann mit krausem schwarzem Haar. Er saß in einem Sessel, hatte die Beine weit von sich gestreckt und sprach mit einer Zigarette im Mundwinkel. Im Gästebuch des Hotels stand hinter dem Namen Ricardo Bonelli bescheiden: Großhändler. Er war vor dem >Michelangelo< mit einem sündhaft teuren Maserati vorgefahren; die Geschäfte schienen also gut zu gehen, sein Anzug besaß das gewisse Etwas eines vorzüglichen Schneiders, und seine Sprache war frei von irgendwelchen Dialektanklängen. Ein wahrer Ehrenmann, wie die drei anderen, die abwechselnd tranken und sich den Schweiß abwischten.