Horst Hartung hatte noch einmal versucht, Angela zu erreichen. Als der Chefportier des Hotels wieder mit seinem Satz begann, legte er wortlos auf. Jetzt suchte Hartung mit dem Fernglas die Haupttribüne ab. Irgendwo mußte Angela sitzen, versteckt in der bunten Menge, aber er fand sie nicht.
Über den Parcours marschierte eine italienische Militärkapelle und spielte flotte Weisen. Eisverkäufer drängten sich schreiend durch die Sitzreihen. Über die Lautsprecher wurde die Mutter eines Kindes Lucia gesucht. Es war bei den Pferden gefunden worden und wußte nur, daß es Lucia hieß und Mama auch im Stadion sei.
Eine halbe Stunde vor dem Start. Die Pferdeburschen führten die wertvollen Pferde auf dem Abreiteplatz hin und her. Ricardo Bonelli und Stefano Grazioli, in hellgrauen Sommeranzügen vom besten römischen Schneider, besichtigten noch einmal die italienische Equipe, ehe sie zufrieden zu ihrer Loge gingen.
«Das wird ein Geschäft«, sagte Bonelli zuversichtlich.»Haben Sie gehört? Laska schläft wie ein Bär im Winter. Die Deutschen sind nur noch Außenseiter.«
«Noch hat das Turnier nicht begonnen. «Grazioli schätzte keine Prophezeiungen. Er war Realist, er glaubte nur, was er sah oder in der Hand hielt.»Erst wenn die italienische Hymne ertönt, drücke ich Ihnen die Hand, Bonelli.«
Romanowski rannte unterdessen herum und suchte Milch. Drei Milchverkäufer wiesen ihn ab, als er ihren ganzen Wagen kaufen wollte und seinen Eimer schwenkte. Ein vierter rief die Polizei, es war zum Verzweifeln.
Aufschluchzend lief er Angela entgegen, die plötzlich zwischen den Ställen auftauchte.
«Ist das wahr?«rief sie schon von weitem.»Laska ist krank?«
«Vajiftet haben se ihr!«heulte Romanowski.»Jetzt will ick Milch, und keener jibt se mir. Mit Milch krieg ick se wieder hin. Wie jut, det ick an meenen Jroßvater dachte!«
Milch. Angela nahm den Eimer aus Romanowskis Hand und rannte davon.
«Die jeben Ihnen nischt!«brüllte Romanowski hinter ihr her.»Die rufen die Polizei, die Idioten!«
Diesmal gelang es. Angela legte einige große Scheine auf die The-ke des Milchwagens, holte sich, unter dem sprachlosen Staunen der Italiener, aus der Kühlbox selbst zwanzig Literbeutel heraus, riß sie auf und schüttete die Milch in den Stalleimer.
«Un pazzo«, stammelte der Milchverkäufer, als Angela mit dem vollen Eimer davonrannte. »Madonna, un pazzo!« Er tippte sich an die Stirn und grinste den patrouillierenden Polizisten an.
Romanowski war außer sich vor Freude, als Angela mit dem überschwappenden Eimer um die Ecke bog.»Milch!«schrie er und zog Laskas Kopf herunter.»Milch, olles Luder! Die wirste jetzt saufen und springen wie 'ne Heuschrecke! Milch!«
Man weiß bis heute nicht, ob der Großvater Romanowskis mit seiner Therapie ein Allheilmittel entdeckt hatte, ob Laska selbst spürte, daß Milch jetzt genau die richtige Medizin war, oder ob tatsächlich das Gift in ihrem Körper nur durch Milch neutralisiert werden konnte. Mit Genuß soff sie ohne Unterbrechung den Eimer leer und stand dann prustend und mit Milchschaum vor den Nüstern in der Sonne. Romanowski rannte in den Stall, schleppte den Sattel heran und legte ihn auf.
«Luft ablassen!«kommandierte er, als er den Sattelgurt anzurrte.»Himmel, bläst sich det Aas wieder auf!«
Noch zehn Minuten bis zur offiziellen Eröffnung.
Rede des Oberbürgermeisters von Rom. Dann Ansprache des Präsidenten der CHIO.
Der erste Reiter: Harway Smith.
Er stand schon bereit, saß auf seinem herrlichen Schimmel wie ein Standbild.
Noch zehn Minuten.
Fallersfeld zog den Kopf tief zwischen die Schultern, als er zufällig zum Abreiteplatz blickte. Dort führte Romanowski seelenruhig Las-ka am langen Zügel, gesattelt, mit den ledernen Sprungglocken um die Hufe, die Startnummer 11 vor dem Ohr.
«Wer einen Verrückten sehen will, der mache Augen links!«kommandierte Fallersfeld.»Horst, bleiben Sie hier! Horst! Verdammt! Zwei Verrückte, Jungs!«
Hartung lief über den Platz. Laska sah ihn, hob den Kopf und wieherte hell. Ein Triumphschrei war das. Ich bin hier! Wir können reiten! Verlaß dich auf mich! Ich springe ihnen allen davon!
Sie tänzelte, scharrte mit den Vorderhufen und streckte den Kopf weit vor, als Hartung sie erreichte.
«Aufsitzen, Herrchen!«rief Romanowski. Er strahlte, als habe man ihn mit einem Metallputzmittel poliert.»Aufsitzen. Springen Sie denen was vor. De Augen sollen denen ausfallen!«
Hartung war mit einem Satz im Sattel. Romanowski warfihm die Zügel zu und hüpfte zur Seite. Hartung riß Laska herum, galoppierte an, genau auf die Umzäunung des Abreiteplatzes zu, der deutschen Equipe entgegen, die wie ein roter Haufen zusammengedrängt am Geländer stand, Fallersfeld fuchtelte mit beiden Armen und stürzte dann zur Seite, als Hartung genau auf ihn zuritt.»Mein Mädchen«, sagte Hartung und beugte sich zu Laskas Ohr vor.»Mein liebes Mädchen, wenn du's schaffst — 'rüber!«
Dann drückte er ab. Hoch flog der goldschimmernde Körper durch die Sonne, weit über den Zaun hinweg, landete weich neben den auseinanderspritzenden deutschen Reitern und stand dann wie aus Erz gegossen da. Selbst die Ohren bewegten sich nicht.
Horst Hartung zog seine schwarze Kappe.
«Horst Hartung bittet, auf Laska reiten zu dürfen«, sagte er laut.
Fallersfeld schob die Mütze resigniert ins Gesicht.
«Meldung an die Turnierleitung«, sagte er heiser zu einem der Pferdehalter.»Hartung reitet auf Laska. Und morgen gehe ich in Urlaub!«
Am Abend flüchtete Bonelli aus Rom. Er war pleite und wurde von seinen Gläubigern verfolgt.
Laska hatte hinter Piero d'Inzeo den zweiten Platz in der Gesamtwertung belegt, mit acht Fehlerpunkten. Aber sie rettete damit der deutschen Equipe den Sieg.
Die Coppa d'Italia ging nach Deutschland.
Und während am Fahnenmast die deutsche Flagge hochgezogen und die deutsche Hymne gespielt wurde, senkte Laska ganz lang-
sam den Kopf und schlief wieder ein.
Das Liebesschloß der Gräfin B
Pünktlich um acht, wie es am Abend vorher bestellt worden war, brachte der Etagenkellner das Frühstück. Er klopfte an die Tür von Zimmer 245, wartete auf einen Zuruf, klopfte nochmals und drückte dann die Klinke herunter. Die Tür war unverschlossen.
«Monsieur, das Frühstück«, sagte der Etagenkellner und blieb im Vorraum stehen. Er stützte sich auf den kleinen Servierwagen und lauschte. Diskretion ist die Grundvoraussetzung für jeden Hotelberuf. Ob man ein Doppel- oder ein Einzelzimmer betritt, Überraschungen sind dazu da, übersehen oder am besten vermieden zu werden.
Der Kellner räusperte sich, klopfte an die gläserne Trenntür zum Schlafraum und wartete weiter. Mon Dieu, er hat einen gesunden Schlaf, dachte er. Vor einer halben Stunde ist er von der automatischen Weckanlage geweckt worden, und jetzt schläft er immer noch. Muß ein hartes Leben sein, so ein Reiterdasein.
In dem kleinen Hotelappartement war es still. Kein Geräusch des Wasserhahns, kein Planschen im Badezimmer, nur die Ruhe einer in den Morgen übergehenden Nacht.
Der Etagenkellner entschloß sich, die Glastür zu öffnen, den Servierwagen hineinzuschieben und schnell wieder zu verschwinden. Er hatte schon Situationen erlebt, die man gar nicht schildern konnte. Ein so berühmter Mann wie Horst Hartung, mit einem Aussehen, daß selbst die verwöhnten Zimmermädchen der zweiten Etage zu schwärmen begannen, warum sollte er anders sein als die meisten Männer, die allein nach Paris kommen?
Paris im Sommer, das ist der Inbegriff von Leben. Das sind son-nendurchglühte Boulevards, blühende Gärten, Angler an den Sei-neufern, durchsichtige Kleidchen, mit Menschen übersäte Wiesen, ein Troß von Kinderwagen, Kühle spendende Brunnen, ein Hauch von Blüten und heißen Benzindünsten.