«In der Nacht, Genosse Major«, sagte Leutnant Stupkin.
«Sie sind ein kluger Kopf, Igor Michailowitsch. Riegeln Sie die ganze Gegend ab. In der Nähe der Wagen postieren Sie Scharfschützen. Ich werde mich selbst davon überzeugen. Wenn ich einen von Ihren Leuten sehe, bekommen Sie ein Kommando in der Taiga. Und Sie greifen erst ein, wenn der Kerl die Ware wegträgt. Sind die Säckchen versteckt?«
«Wo sie waren, Genosse Major.«
«Weisen Sie Ihre Leute ein. Ich werde auch in der Nähe sein, Igor Michailowitsch.«
Und so kam die Nacht.
Dr. Rölle schliefbei Laska, der Futtermeister bei den anderen Pferden. Abseits von den Ställen, in völliger Dunkelheit, bildeten die Soldaten einen Kordon um den Platz. Leutnant Stupkin machte noch einmal mit einer Taschenlampe winkend, bei seinen Scharfschützen die Runde. Er zuckte zusammen, als er auf dem ausladenden Ast eines breitkronigen Baumes eine dunkle Gestalt hocken sah.
«Gehen Sie weiter, Sie Idiot!«zischte Borolenko. Er saß vier Meter von Hartungs Transporter entfernt zwischen Himmel und Erde.»Ich gebe das Signal. Dann alle Scheinwerfer hier aufdie Wagen und ohne Anruf schießen.«
Leutnant Stupkin rannte weiter.
Der Kordon war lückenlos und unsichtbar.
Aber der Mann oder die Männer, auf die sie warteten, kamen nicht.
Bis zur Morgendämmerung hockte Borolenko auf seinem Ast, dann gab er auf. Steif, ächzend kletterte er auf die Erde. Leutnant Stup-kin tauchte auf, mit roten, übermüdeten Augen.
«Morgen wieder«, sagte Borolenko matt.»Jede Nacht, und wenn wir wie die Kakerlaken herumkriechen, ich brauche Beweise.«
Sie kennen mich nicht, dachte Borolenko. Ich bin klein und dick, aber ich bin kein Idiot! Und ich habe Zeit, viel Zeit.
Im Hotel >Ukraina< hatte man es sich abgewöhnt, weiter zu protestieren. Fallersfeld schwieg, Hartung schwieg, die anderen Reiter vertrieben sich die Zeit mit Lesen. Radiohören, Schlafen und Essen, Angela zeichnete aus Langeweile den Kopf ihrer Bewacherin mit Bleistift auf ein Blatt Papier, und als das Porträt fertig war, nahm es der weibliche Leutnant weg und sagte hart:»Beschlagnahmt!«Nur Romanowski rebellierte, warf am zweiten Tag das Schachbrett an die Wand und brüllte den Leutnant an.
Major Borolenko machte mehrmals am Tag seine Runden durch die Zimmer wie ein Chefarzt seine Visiten. Er wirkte müde und schlapp, seine Augen waren geschwollen und gerötet, aber seine Stimme klang immer noch freundlich und tröstend.
Am Abend brachten vier Uniformierte die Sättel und Stiefel Har-tungs in sein Zimmer. Sie waren zerschnitten, aufgerissen, zerfetzt. Selbst die Trensen hatte man in Stücke zerlegt.
«Freuen Sie sich«, sagte Borolenko, der kurz darauf hereinschaute.»Nichts gefunden!«
«Und damit soll ich reiten?«Hartung gab einem der Springsättel einen Tritt.»Völlig unbrauchbar! Und meine Stiefel sind auch aufgeschlitzt!«
«Es wird sich alles regeln lassen.«
«Das nicht mehr!«
«Es war unerläßlich für unsere Ermittlungen. Gute Nacht.«
Borolenko schloß die Tür.
Gute Nacht, dachte er. Sie werden schlafen. Ich aber werde wieder auf meinem Ast hocken wie ein Affe.
Nur noch zwei Tage bis zum Turnier. Das Stadion ist ausverkauft. Noch gilt die Nachrichtensperre, aber morgen müssen wir bekanntgeben, daß die deutsche Equipe verhaftet ist. Das offizielle Kommunique. Was dann folgt, ist bekannt: diplomatische Verhandlungen, Vorlage der Ermittlungsergebnisse, Rechtsbeistand für die Beklagten. Und was kann man gegen sie anführen? Nur, daß in einem Wagen Kokain gewesen ist. Eine magere Anklage, und sie wissen es.
Borolenko fuhr hinaus zum Dynamo-Stadion. Der Kordon der
Scharfschützen hatte sich bereits postiert. Leutnant Stupkin meldete:
«Genosse Dobchinskij ist auch gekommen. Er liegt in einem Loch dort unter dem großen Holunderstrauch.«
Auch das noch, dachte Borolenko. Semjon Iwanowitsch Dob-chinskij, der Erste Kommissar des MWD. Das wird eine Nacht! Ich werde aufpassen müssen, daß er nicht schnarcht wie ein Wasserbüffel.
Gebrochen schlich Borolenko zu dem Holunderstrauch.
Niemand erschien, die Päckchen abzuholen.
Dobchinskij schlief in seinem Loch, Borolenko nickte gegen Morgen ein. Leutnant Stupkin schwankte vor Müdigkeit.
Im Laufe dieses Tages taten Dr. Rölle und der Futtermeister etwas, was eigentlich nicht ihre Aufgabe war — sie longierten alle Pferde ab, damit sie nicht steif wurden. Major Borolenko, der nach vier Stunden Schlaf wieder bei den Ställen erschien, erlaubte, daß die Pferde trainiert wurden. Im Stadion hatte der Aufbau der Hindernisse begonnen. Oberst Tamaschek von der Offiziersreitschule Moskau hatte den Parcours entworfen — eine höllische Strecke, die eigentlich nur einer gewinnen konnte: Hauptmann Djomka Ulano-witsch Pollowjeff, der beste Reiter der Sowjetunion. Er überwachte mit Oberst Tamaschek das Aufsetzen der Hindernisse. Auf der Aschenbahn exerzierte das Ehrenbataillon. Das Musikkorps marschierte mit unwahrscheinlicher Präzision auf. Auf dem Abreiteplatz übten die sowjetischen Reiter. Die Fahnen stiegen an den riesigen Masten hoch.
Borolenko wurde es übel, wenn er das alles sah.
Noch wissen sie es nicht, aber morgen bricht das hier alles zusammen. Es wird der größte Skandal, den Moskau bisher erlebt hat!
«Üben Sie, Doktor«, sagte er zu Dr. Rölle.»Ich sehe ein, daß die Pferde steif werden vom langen Stehen.«
Und Dr. Rölle arbeitete die Pferde durch. Er war kein glänzender Reiter, aber er konnte die Pferde lockern, kleinere Sprünge mit ih-nen machen und die Lektionen der Dressur, die Grundlage aller Erfolge, durchnehmen. Auch der Futtermeister ritt mit ihnen seine Runden, machte Cavaletti-Arbeit und Gehorsamsübungen. Nur an Las-ka traute sich keiner heran. An der Longe gehorchte sie Dr. Rolle wie ein braves Zirkuspferd, aber kam er mit dem Sattel, stieg sie vorne hoch.
Am dritten Tag ging mit Laska eine Wandlung vor sich. Sie ließ sich von Dr. Rölle den Sattel auflegen, sie ließ Dr. Rölle aufsitzen, sie ging mit Dr. Rölle in die Bahn. Der Tierarzt begriff es selbst nicht, ritt ein paar Runden auf Laska. probierte alle Gänge durch und wurde dann mutig, ritt ein Hindernis von nur einem Meter an — eine Einzelstange — und flog dann mit Laska hoch durch die Luft. Sie kamen getrennt auf dem Boden an.
«Was für ein Pferd«, sagte Dr. Rölle, als er vom Rasen aufstand.»Man hat das Gefühl, es gäbe keine Schwere mehr. Laska, du Luder, wir probieren es noch mal!«
Und es gelang. Dr. Rölle blieb im Sattel.
Nach zwei Stunden kamen russische Stallknechte und holten Sättel, Zaumzeug, Halfter, Longen und Stiefel wieder ab. Borolenko hatte es durchgesetzt, daß man der deutschen Mannschaft das Notwendigste auslieh.
«Ihr eigenes Material existiert nicht mehr«, sagte er schon am ersten Tag zu Dr. Rölle.»Wir müssen gründlich sein.«
Vor der dritten Nacht, der letzten, erschien Borolenko noch einmal in Hartungs Zimmer. Er setzte sich auf die Couch, bedrückt, um Jahre älter.
«Fassen wir zusammen, was wir wissen«, begann er müde.»Die Wagen wurden in West-Berlin verladen. Seitdem haben sie den Waggon nicht verlassen, und keiner konnte in die Wagen hinein. Das Kokain muß also in West-Berlin, auf dem Güterbahnhof, in der Verkleidung versteckt worden sein. In Berlin — oder bei Ihnen, Hartung! Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. War's auf dem Güterbahnhof, hat man Sie als >stummen Kurier< benutzt, wie wir es nennen, war's bei Ihnen, sind Sie allein verantwortlich! Um eines von beiden zu beweisen, halte ich noch diese Nacht durch. Ist sie wieder erfolglos, erhebe ich Anklage gegen Sie!«
«Aber das ist doch Irrsinn! Warum sollte ich Kokain schmuggeln?«
«Das fragt man sich oft bei Straftaten. Warum? Wieso gerade er? Was hat das für einen Sinn? Wenn man lange genug dabei ist, fragt man nicht mehr, der Mensch ist ein rätselhaftes Wesen.«