«Also diese Nacht noch?«Hartung trank ein Glas Wein.»Jakow Nikitajewitsch, Sie wissen, daß ich unschuldig bin.«
«Was heißt wissen? Man muß es beweisen. «Borolenko hob die Schultern.»Wer zwischen Mühlsteine gerät, wird zermahlen.«
Die dritte Nacht.
Stupkins Männer waren postiert. Der Genosse Dobchinskij häng-te sich wieder an Borolenko und kletterte sogar auf den Baum über Hartungs Transporter.
«Hier können Sie nicht schlafen, Semjon Iwanowitsch«, flüsterte Borolenko ihm zu.»Wir sind fünf Meter über der Erde, das hält ihr Genick nicht aus, wenn Sie hinunterfallen.«
Es war totenstill. Die Dunkelheit wurde fahler, ein halber Mond schob sich aus den Wolken. Und da sah Borolenko zuerst den Schatten, der vom Stadioneingang heranschlich. Er hielt den Atem an, legte Dobchinskij die Hand auf den Mund und zeigte nach unten. Dobchinskij nickte.
Der Schatten kam näher, nahm Gestalt an — ein langer, dürrer Kerl, der heranschlich, sich nach allen Seiten umsah, die Wagen erreichte, zielsicher auf Hartungs Transporter zuglitt und in der offenen Tür verschwand.
Borolenko hielt den Atem an, der plötzlich zu pfeifen begann. Er sah, wie Leutnant Stupkin im Schatten eines Strauches winkte, wie zehn, fünfzehn Scharfschützen aus dem Boden auftauchten.
Unter ihm, im Wagen, rumorte es. Jetzt reißt er die Füllungen auf, dachte Borolenko fröhlich. Jetzt sammelt er die Säckchen ein, die nur Salz enthalten, gleich wird er herauskommen, und dann pfeife ich. Wir wollen ihn lebend haben und dann ausquetschen wie eine Zitrone.
Woher kommst du, Lump? Wer sind die Hintermänner? Wo ist der Leiter der Organisation?
Der Mann im Transporter hatte die Säckchen eingesammelt. Er kam wieder heraus, so schnell und plötzlich, daß Borolenko fast zu pfeifen vergaß. Dann aber gellte es durch die Nacht, Scheinwerfer leuchteten auf und tauchten die rennende Gestalt in gleißendes Licht.
«Stoj!«brüllte Leutnant Stupkin.»Du bist umzingelt. Nimm die Hände hoch, du Hundesohn! Stoj! Willst du erschossen werden?«
Der lange Mensch schien taub zu sein. Er schnellte davon, nach vorn gebückt, Haken schlagend wie ein Hase. Borolenko fixierte Dob-chinskij.
«Sie sehen, er will erschossen werden«, sagte er matt.»Es bleibt uns keine andere Wahl. «Dann brüllte er zu den Soldaten hinüber:»Auf die Beine zielen! Er muß vernehmungsfähig bleiben! Feuer!«
Die Scharfschützen schossen. Der Mann machte einen hohen Sprung, warf die Arme in die Luft und fiel zu Boden. Dann — noch ehe die ersten Schützen ihn erreicht hatten — ertönte ein leiser Knall. Borolenko ballte die Fäuste.
«Er hat sich selbst erschossen!«stammelte er.»Wir werden nie erfahren, wer der Leiter ist: Sie werden sehen, Genosse Dobchinskij, wir haben nur auf seine Beine gezielt, aber er hat sich selbst umgebracht.«
Genauso war es. Mit blutüberströmten Beinen lag der Unbekannte im Gras, in der Hand hielt er eine kleine Pistole, mit der er sich in die rechte Schläfe geschossen hatte.
In seiner Tasche fand man seinen Ausweis. Mukar Antonowitsch Zaroskin hieß er. Geboren in Taganrog. Er sah verhungert aus, aber Borolenko wußte, daß das Rauschgift seinen Körper ausgemergelt hatte.
Um siebzehn Uhr fand der große Zweikampf zwischen Hauptmann
Pollowjeff und Horst Hartung statt. Das Dynamo-Stadion tobte. Achtzigtausend Russen klatschten rhythmisch in die Hände, als Djom-ka Ulanowitsch auf den Parcours ritt.
Das dritte Stechen. Null Fehler bisher. Nur noch zwei Hindernisse.
Ein Hoch-Weit-Sprung und die verdammte Mauer von jetzt 2 Meter 10 Höhe.
Borolenko war nicht im Stadion, er stand am Zaun des Abreiteplatzes und sprach mit Hartung. Die letzten Stunden waren seine glücklichsten gewesen. Er war mit Sattel, Trense, Stiefeln und allem Zubehör in Hartungs Hotelzimmer erschienen und hatte alles auf den Boden geworfen.
«Hauptmann Pollowjeff leiht Ihnen seine zweite Ausrüstung«, sagte er.»Er hofft, daß der Sattel für Laska paßt, die Stiefel passen bestimmt, er hat die gleiche Schuhgröße wie Sie! Los, ab zum Turnierplatz. Ich wünsche, daß Sie gewinnen, Towaritsch Hartung, in Pollowjeffs Sachen — als Wiedergutmachung sozusagen!«
Über Hartungs Gesicht flog ein ungläubiges Lächeln.
«Ist das Ihr Ernst?«fragte er.»Heißt das, wir können starten?«Er griff zum Telefon und ließ sich mit Fallersfeld verbinden.
Aber der winkte ab.»Völlig unmöglich, Horst. Sie können mit einer fremden Ausrüstung bei Laska keinen Blumentopfgewinnen. Die beißt sogar Romanowski, wenn der ihr einen Sattel, der nicht nach Hartung riecht, auflegen will. Ich bin dabei, das Turnier abzublasen.«
Eine volle Stunde hatte Hartung gebraucht, um den Baron umzustimmen. Mit Engelszungen hatte er geredet. Er durfte starten.
Nun war Hauptmann Pollowjeff auf dem Parcours. Sein Pferd >Si-birska<, eine hochgebaute, schwarze Stute, tänzelte unruhig vor der Starterfahne. Das rhythmische Klatschen erstarb. Atemlose Stille.
Pollowjeff galoppierte an, die Fahne senkte sich.
Die Uhr lief an, die wenigen Sekunden bis zum Sieg.
Der erste Sprung. >Sibirska< schaffte ihn mit Bravour.
Die Wendung. Anritt zur Mauer.
Zwei Meter zehn!
>Sibirska< zögerte den Bruchteil einer Sekunde im Lauf, und dieses unmerkliche Zögern wurde ihr zum Schicksal. Sie sprang, sie hob sich in den Himmel, aber der Sprung war zu früh angesetzt. Mit den eingezogenen Hinterbeinen riß sie die obere Schicht ab, die Mauerkrone polterte auf den Rasen.
Pollowjeff raste durchs Ziel. Ein schwarzer Pfeil.
Vier Fehler. 10,4 Sekunden.
Über den achtzigtausend Menschen im Dynamo-Stadion von Moskau lag es wie eine Lähmung, als Hartung mit Laska einritt. Borolenko stand an der Schranke und preßte beide Hände auf sein Herz.
Laska sah sich nach allen Seiten um.»O Gott«, sagte Romanowski und biß sich in den Handballen.»Jetzt macht se wieder 'ne Schau!«
Fallersfeld stand neben Angela Diepholt und hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. Er wollte sie festhalten, ihr Mut zusprechen, aber jetzt stützte er sich selbst auf sie, als habe ihn der Schlag getroffen.
Horst Hartung galoppierte an. Schwerelos stob Laska über den Rasen.
Die Starterfahne.
Uhr läuft.
Hartung starrte auf die beiden Hindernisse. Er fror innerlich. Der fremde Sattel gab weniger Halt als sein eigener, die Stiefel drückten.
Der Hoch-Weit-Sprung. Laska setzte darüber hinweg wie eine Rakete.
Die Wende, ganz knapp, auf der Hinterhand herumgerissen, gefährlich, aber Sekunden sparend.
Und nun die Mauer. Zwei Meter zehn. Ein Ungetüm aus Ziegeln.
Laska streckte sich. Sie wurde plötzlich so dünn, daß Hartung Angst hatte, der Sattel rutsche mit ihm weg. Er gab die Zügel frei, er sah den Himmel näher kommen, auf dem Scheitelpunkt fühlte er sich wie ein Pfeil, der die Schwerkraft überwunden hat. Dann sah er den Rasen wieder, spürte den Aufprall, warf sich nach vorn und schloß die Augen.
Als er durchs Ziel galoppierte, schrien achtzigtausend Menschen auf.
Null Fehler. 9,6 Sekunden.
An der Schranke weinte Borolenko. Tatsächlich, die Tränen rannen ihm über die dicken Wangen. Weinend kam er zu Fallersfeld, drückte ihm die Hand, umarmte ihn dann und küßte ihn auf beide Wangen.
Dann lief er weg, griff in beide Taschen, holte einen Haufen Zuk-kerstücke hervor und rannte Laska nach.
«Behalt Sattel und Stiefel, Brüderchen«, sagte später bei dem Festessen im Hotel >Ukraina< Hauptmann Pollowjeff zu Hartung.»Trage sie und siege weiter. Du hast bestes Pferd von Welt. Eigentlich habe ich gesiegt, waren mein Sattel und meine Stiefel!«
Er lachte, umarmte Hartung, und am Morgen waren sie Freunde bis ans Lebensende.