Am Morgen des Turniertages stand er früh auf und wartete nicht, bis Angela kam und ihm beim Waschen half. Mühsam, von Schmerzen geplagt, rasierte er sich, steckte den Kopfunter den kalten Wasserstrahl, um die Müdigkeit aus seinem Hirn zu treiben, und zog sich dann mit einer Hand an. Bis zu den Stiefeln gelang es, dann saß er auf dem Stuhl und wartete.
Wer zuerst kam, war Romanowski. Er sah Hartung im Reitzeug und hieb mit der Faust gegen die Wand, daß es wie ein Paukenschlag dröhnte.
«Det mach ick nich mit!«erklärte er.»Ooch die anderen Kameraden sajen, det Se im Bett bleiben sollen.«
«Zieh mir die Stiefel an, Pedro.«
«Nee, Herrchen, det tu ick nich.«
«Du hältst sie mir hin, und ich trete rein.«
«Nee!«
«Pedro!«
«Und wenn Se mit de Oogen rollen wie 'n Kannibale, ick tu et nich.«
«Quatsch nicht soviel, Pedro, halt mir die Stiefel hin.«
«Nee, und dreimal nee!«
«Ich entlasse dich, und diesmal wirklich.«
«Und wenn Se mir den Hintern aufreißen, ick helf Se nicht!«
Es war schließlich Angela, die Hartung in die Reitstiefel half. Resigniert stützte sie ihn, als er in die engen Schäfte fuhr, und zog dann die Reithosen glatt.»Nach dem Turnier fliege ich nach Deutschland zurück«, sagte sie mit einer fremden, tonlosen Stimme.»Ich will nicht Zeuge sein, wie du dich systematisch kaputtmachst.«
«Nur dieses Springen, Angi, dann habe ich Ruhe, mich auszukurieren. Bis zum nächsten Turnier in Mexiko sind es noch vier Wochen. So lange braucht kein Schlüsselbein, um wieder leidlich stabil zu sein. Warum seid ihr alle so kurzsichtig?«
«Weil wir weiter sehen! Du bist auch nur ein Mensch.«
Sie wandte sich ab und rannte hinaus.»Jetzt heult se«, sagte Ro-manowski bitter.»Herrchen, ooch ick vasteh Se nich mehr.«
Hartung ging etwas steifbeinig durch das Zimmer. Die Müdigkeit von zwei durchwachten Nächten voller Schmerzen steckte noch in ihm und war mit kaltem Wasser allein nicht zu verjagen. Das Schlüsselbein spürte er im Augenblick nicht mehr. Dr. Rölles Bandagen saßen gut und panzerten seine linke Schulter ein. Wie sein Körper allerdings auf die Erschütterungen beim Springen reagieren würde, daran wagte Hartung nicht zu denken. Schon in gesundem Zustand war das Aufkommen nach einem Hindernis ein Schlag, der von den Zehen bis zur Schädeldecke zuckte, aber man konnte ihn elastisch abfangen und sich aus diesem Stauch hinausheben. Das alles war jetzt nicht mehr möglich, sein Körper würde die ganze Wucht des Aufpralls auffangen.
Romanowski hielt ihm die breite Hand hin.
«Ich stütz Se, Herrchen.«
Hartung winkte ab. Er bemerkte plötzlich das bläuliche Auge und die Beule an Romanowskis Hinterkopf.
«Was hast du denn da?«fragte er.»Krach mit Laska?«
«Nee, Herrchen. «Romanowski hatte sich auf diese Frage vorbereitet.»Hinjefallen über eenen Stein.«
«Wieder besoffen?«
«Ick hab bis vorjestern diesen japanischen Reiswein nich jekannt.«
O Gott, meine schöne Mandelblüte, dachte er dabei. Hätte ich nur verstanden, daß Oki der Name von einem verdammt eifersüchtigen Kerl ist!
Ganz langsam gingen sie zusammen über den großen Platz, der zwischen den Wohnhäusern und den Stallungen lag. Auf den Abreiteplätzen hatte die Arbeit begonnen. Die russische Equipe trainierte mit militärischer Exaktheit, die Amerikaner trieben ihre Pferde über die Cavalettis, die Italiener diskutierten über ein Pferd, das einmal lahmte, einmal herrlich sprang. Der Equipenarzt, ein temperamentvoller Sizilianer, schrie herum und beschimpfte alle, die anderer Meinung waren als er. Die deutschen Reiter führten ihre Pferde noch an der Longe herum. Laska stand noch im Stall — der Star
wartete auf seinen Herrn.
Hartung trat in die Box und klopfte Laska auf die Kruppe.»Guten Morgen, mein Mädchen«, sagte er fröhlich.»Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Laskas Kopf fuhr herum. Ihre großen braunen Augen musterten Hartung. Wie auf dem Schiff, das sie nach Australien gebracht hatte, lagen Angst und Schrecken in diesem Blick. Vorsichtig strich sie mit den weichen Nüstern über Hartungs Schulter, und es war, als ertaste sie die dicken Bandagen und begreife, daß ihr Herr krank war. Sie wieherte leise, scharrte mit dem linken Bein und schüttelte plötzlich den Kopf.
«Se kann sprechen!«sagte Romanowski atemlos.»Herrchen, se kann sprechen.«
«Also auch du. «Hartung streichelte Laska über die Nüstern und zwischen den Augen.»Es hilft alles nichts, wir springen, mein Mädchen. Und damit du siehst, daß es gut geht, üben wir jetzt. Pedro, satteln!«
Es war eine einzige Qual. Schon das Aufsteigen und Einsitzen in den Sattel ging durch Hartungs Schulter wie Feuer. Er preßte den Arm eng an den Körper, nutzte die Stütze des Dreieckstuches aus und atmete ein paarmal tief durch. Dann gab er Laska frei für einen fast bummelnden Schritt.
Es ist unmöglich, sagte er sich. Ich werde schon bei den ersten Galoppmetern vom Pferd fallen. An ein Springen ist überhaupt nicht zu denken. Jede Erschütterung ist wie ein Hammerschlag. Es ist unmöglich.
Laska ging vorsichtig, als taste sie sich über Eis. Ihr Instinkt sagte ihr, daß ihr Herr krank war. Sie reagierte zum erstenmal in ihrem Leben nicht auf die Aufforderung, in einen Trab zu fallen. Mit gesenktem Kopf ging sie weiter im Schritt.
«Mein Mädchen«, sagte Hartung und beugte sich mühsam zu ihren Ohren vor, eine Anstrengung, die ihm den Schweiß ins Gesicht trieb,»sei nicht trotzig wie alle Frauen. Soll ich mir die Sporen umschnallen?«
Über den Platz rannten Dr. Rölle und Angela. Dr. Rölle fuchtelte mit den Armen hoch in der Luft.
«Holt ihn 'runter!«schrie er.»So ein Irrsinn! Ihr steht herum und seht euch das ruhig an? Holt den Idioten vom Pferd!«
«Jetzt los, mein Mädchen«, sagte Hartung ruhig.»Zeig allen, daß wir fit sind. Und wenn ich stöhne, hör einfach nicht hin.«
Und dann trabten sie, galoppierten, vollführten scharfe Wendungen, jagten auf das Übungshindernis, einen Doppeloxer, zu und übersprangen es so elegant wie immer. Mit einer Hand, der gesunden rechten, hielt Hartung die Zügel. Der Absprung war schmerzhaft, aber zu ertragen, doch als er wieder aufsetzte, war es wie eine Explosion.
Im Sattel bleiben, befahl sich Hartung. Nichts anmerken lassen. Lächeln, und weiter, weiter.
Wie er es schaffte, wußte er selbst nicht. Nach einer halben Stunde hob ihn Romanowski vom Sattel und stützte ihn bis zu einem Hocker neben dem Abreiteplatz. Dort warteten Angela und Dr. Röl-le mit verschlossenen Gesichtern.
«Na, Sie Hirnamputierter?«fragte Dr. Rölle.»Das war schön, was?«
«Es ist durchzuhalten. «Hartungs Stimme klang wie Zähneknirschen.»Und wenn Sie mir vor dem Parcours eine Injektion geben gegen Schmerzen, schaffe ich es. Doktor, es hängt zuviel daran.«
«Mein Flugzeug geht morgen früh um 8 Uhr 17. «Angela blickte über Hartung hinweg. Ihr schöner Mund zuckte.
«Du fliegst nicht.«
«Doch. Die Tickets sind bestellt.«
«Ich brauche dich, Angi!«
«Das ist eine Lüge. Du brauchst nur Siege und deine Laska. Daraus allein besteht deine Welt.«
«Und aus dir. Du weißt es genau. Heute abend werde ich brav wie ein Kind sein.«
«Falls es für dich noch einen Abend gibt.«
«Ihr seht alle zu schwarz. Mit einer Spritze im Leib muß ich diesen Nachmittag durchhalten.«»Wie Sie wollen!«Dr. Rölle schlug die Fäuste gegeneinander.»Ich pumpe Sie voll, als seien Sie ein Nilpferd! Vielleicht ist es wirklich am besten, daß Sie sich selbst Ihren Dickkopf spalten! Kommen Sie, Angi, hier haben wir nichts mehr zu suchen.«
Drei Uhr nachmittags.
Im Stadion starrten sechzigtausend Menschen auf den grünen Rasen und die dort aufgebauten Hindernisse. Nomo Fukujachi hatte noch einmal versucht, Hartung zu überreden. Es war sinnlos. Dr. Rölle gab Hartung eine Schmerzinjektion, sie wirkte kaum, wie Hartung feststellte, als er in den Sattel kletterte. Zwar ließen die Schmerzen etwas nach, aber die Nerven und der Bruch waren bereits so gereizt, daß eine normale Spritze nicht mehr reichte.