Sie weinte lauter, und Hartung hatte alle Mühe, sie festzuhalten. Sie wollte aufspringen und weglaufen. Wenn ich sie jetzt loslasse, dachte Hartung, geschieht etwas Schreckliches. Sie ist jetzt zu allem fähig.
Romanowski hatte Laska fest in der Hand und führte das zitternde Tier hin und her. Immer wieder drehte es den Kopf und starrte zu Hartung hinüber.
«Wie — wie ist das passiert?«fragte Hartung leise und drückte Luisas Kopf an sich.
«Ich war siebzehn Jahre alt, mein Vater ist Chemiker, ein berühmter Chemiker in Italien. Die Gironi-Werke. Ich spielte in seinem Privatlabor — er hatte immer neue Ideen, die er auch ausführte —, und plötzlich explodierte etwas. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber ein Flammenstrahl traf meine Augen, nur diese eine Partie in meinem Gesicht und fraß mir die Lider weg. Zehn Jahre renne ich seitdem von Arzt zu Arzt, immer neue Adressen, zehn Jahre lang immer wieder Hoffnung. Aber es gibt keinen Arzt, der neue Lider einsetzen kann. Und zehn Jahre kämpfe ich gegen den Wahnsinn, gegen die Angst, nicht mehr geliebt zu werden. Ich nehme mir jeden Mann, der mir gefällt, auch wenn er hinterher wegrennt, wie vom Teufel gejagt. Nur du bist nicht gekommen. «Sie umarmte ihn und sah ihn an. Ihr ebenmäßiges Gesicht war tränenüberströmt. Die dunkle Sonnenbrille verdeckte wieder die Tragödie ihres Lebens.»Hast du — hast du vorher gesehen, wie häßlich ich bin?«
«Sie sind die schönste Frau, Signorina, die ich je gesehen habe.«
«Mit dieser Brille, diesem Ungetüm vor meinen Augen!«
«Ein Mensch besteht nicht nur aus Augen!«
«Aber ich war nicht schön genug, um dich zu mir zu locken.«
«Darüber könnte man viel sagen, Luisa. «Hartung wischte ihr die Tränen vom Gesicht.»Vielleicht hatte ich nur Angst vor deiner Schönheit.«
«Du lügst geschickt.«»Und dann war Laska da. Sie spürt, was der heutige Tag für sie bedeutet. Seit Tagen ist sie unruhig, ich mußte immer um sie sein.«
«Sie haben mir das Leben gerettet. Vergiß das nicht.«
«Du hättest wirklich geschossen?«Unwillkürlich war auch Hartung in das vertraute Du gefallen. Luisa nickte. Dann blickte sie suchend nach ihrer Waffe.»Die Pistole hat Pedro eingesteckt. Es ist besser so.«
«Ich habe noch eine andere im Hotel. «Sie lächelte schwach.»Es ist so einfach, eine Pistole zu bekommen. Ja, ich hätte dich erschossen.«
«Und dann auf dich selbst?«
«Nein!«Sie wollte aufstehen, und Hartung half ihr auf die Beine. Dabei legte sie die Hände um seinen Nacken. Von weitem sah es aus, als küsse sie ihn leidenschaftlich.»Ich wäre fortgelaufen, und keiner hätte gewußt, wer den großen Reiter Hartung erschossen hat.«
«Pedro.«
«Ihn hätte der zweite Schuß getroffen. Warum sollte ich mich töten? Es genügt, wenn die Männer sterben, die mich verachten. Mit siebzehn, als der Unfall geschah, war ich verlobt. Luigi hieß er, Luigi Baldini. Wir wollten bald heiraten. Als er meine zerstörten Augen sah, lief er weg, lief einfach weg, ohne ein Wort, und kam nie wieder. Für ihn müssen alle Männer büßen!«Sie klopfte ihr schwarzes Kostüm ab, ordnete die Haare und schob die Sonnenbrille näher vor die Augen.
«Wohin gehst du jetzt?«fragte Hartung.
«Ins Hotel und dann nach Rom.«
«Zur Coppa d'Italia?«
«Ja.«
«Ich werde dort auch springen.«
«Ich weiß, aber wir werden uns nicht wiedersehen.«
Sie drehte sich um, starrte Laska an, die nervös an der Hand Romanowskis tänzelte, und ging dann mit schnellen Schritten in Richtung auf die Tribüne davon.
«Det jibt noch 'n Nachspiel, Herrchen«, sagte Romanowski und
wischte sich den Schweiß von der Stirn.»Det jnädige Frollein hat hinten an der Ecke jestanden und alles jesehen. Nu is se weg.«
«Angela?«Hartung fuhr herum.»Pedro, du Idiot, warum hast du nichts gesagt?«
«Man soll die Dinge nicht noch mehr komplizieren, Herrchen. Weeß ick, wie die italienische Verrückte reagiert hätte?«
Auf dem Parcours sprangen die letzten Reiter der A-Prüfung. Ein Pferdehalter der deutschen Equipe rannte über den Rasen und winkte mit beiden Armen.
«Herr Hartung, wo bleiben Sie? Der Herr Baron läßt Sie überall suchen. Letzte Besprechung vor dem Start.«
Hartung sah Romanowski mit einem verkniffenen Lächeln an.»Er versucht noch mal, Laska in die Reserve zu schieben. Pedro, 'rüber zum Sattelplatz! Jetzt siegt der dickste Kopf.«
«Und den haben wir drei, Herrchen.«
Hartung hatte sich durchgesetzt, er durfte mit Laska springen. Seine Startnummer war 13, und Fallersfeld sah das als eine wirkliche Katastrophe an.
«Laska und dann die 13, das geht ins Auge!«jammerte er.»Ein Glück, daß ein Pferd nicht abergläubisch ist. Aber ich bin's, Horst. Und da hilft auch kein dreimal über die Schulter spucken mehr. Ich flehe dich an, nimm >Parade<. Er ist eingesprungen und in bester Form. Und ruhig wie ein Lamm. Sieh ihn dir an, wie er dasteht, und dagegen diese verdammte Laska!«
Es war alles richtig, was Fallersfeld sagte. >Parade< stand abseits und kaute verträumt an seinem Olivengebiß. Laska mußte abseits stehen, weil sie um sich trat und jedes Pferd, das in ihre Nähe kam, sofort angriff. Romanowski hing mehr in den Zügeln, als er stand, fluchte und warf mit Ausdrücken um sich, bei denen selbst alte Pferdeknechte noch rot wurden.
Zwei Reiter der deutschen Equipe waren schon im ersten Umlauf mit vier Fehlern abgeritten. Fallersfeld hatte seine Mütze zerknautscht
und sich nur damit trösten können, daß kein anderer Reiter weniger als vier Fehler auf dem schweren Parcours gelassen hatte.
«Noch haben wir eine Chance«, sagte er, heiser vor Erregung.»Horst, wenn du auch nur vier Fehler machst und d'Inzeo und Pes-soa, die nach dir kommen, ebenfalls, dann kannst du im Stechen mit >Parade< noch den Sieg holen.«
«Ich reite mit Laska«, sagte Hartung laut und endgültig.»Und, wenn es sein muß, auch ins Stechen.«
«Dann sitz auf!«Fallersfeld faltete die Hände.»Wenn du das drittemal reißt, bete ich, daß es Scheiße regnet.«
Sechs Minuten später war es soweit, aus den Lautsprechern tönte die Stimme Graf Hellbergs:
«Als nächster mit Nummer 13 am Start: Horst Hartung auf >Las-ka<. Deutschland.«
Es war, als senke sich über das herrliche, große Rund des Turnierplatzes plötzliches Schweigen. Die Menschenmenge schien den Atem anzuhalten. Wer hier bei glühender Sonne aushielt, wußte: Laska, das bisher unbekannte Pferd von H.H., sprang zum erstenmal eine internationale Konkurrenz. Eine Premiere in einem hoffnungsvollen Pferdeleben.
Hartung ritt ein. Er kannte den Parcours genau, er hatte ihn vorher abgeschritten, von Hindernis zu Hindernis, hatte dabei jeden Sprung berechnet, sich jeden Anreitewinkel gemerkt, Bruchteile von Sekunden entdeckt, wenn es wirklich in ein Stechen ging. Er wußte genau, wo Laska mit ihrer ungeheuren Sprungkraft abstoßen mußte, wo sie flach zu springen hatte oder steil über das Hindernis gezogen werden mußte. Vor allem die Dreierkombination war schwierig. Hier mußte Hartung Laskas Temperament zügeln, mußte sie hart in die Hand nehmen, sonst hing sie mit ihrer Sprungweite todsicher mitten im dritten Oxer.
Graf Hellberg auf seinem Sitz in der Turnierleitung wurde unruhig. Er sah unten am Gitter der Einreiteschneise Fallersfeld stehen, barhäuptig, mit wehenden weißen Haaren, wie ein Fakir, der zur Selbstverbrennung geht. Dann wanderte sein Blick zu Hartung und
Laska, und bleicher Schrecken ergriff Hellberg. Schon beim Vorreiten und Vorstellen hatte Hartung Mühe, das Pferd in den Griff zu bekommen. Mit hochgerecktem Hals und geblähten Nüstern tänzelte Laska unter ihm, ein einziges Nervenbündel.