Becker nickte.
»Sie sind also nicht wegen meiner Kolumne hier?«
»Aber nein, Sir.«
Es war, als hätte man aus Pierre Cloucharde die Luft herausgelassen. Langsam sank er wieder in seinen Kissenberg zurück. »Ich habe gedacht, Sie kämen von der Stadt... und wollten mich dazu bewegen...«, sagte er tief enttäuscht. Er verstummte und sah Becker an. »Wenn Sie nicht wegen meiner Kolumne gekommen sind,
weshalb sind Sie dann überhaupt hier?«
Gute Frage, dachte Becker und stellte sich die Smoky Mountains vor. »Es ist nur ein informeller Besuch. Eine kleine Aufmerksamkeit
auf diplomatischer Ebene«, log er.
Der Mann sah ihn überrascht an. »Eine Aufmerksamkeit auf diplomatischer Ebene?«
»Jawohl, Sir. Wie ein Mann in Ihrer Stellung gewiss weiß, ist die kanadische Regierung sehr darum bemüht, ihre Bürger vor den Unzulänglichkeiten dieser, äh... sagen wir, weniger zivilisierten
Länder zu schützen.«
Clouchardes schmale Lippen teilten sich zu einem wissenden
Lächeln. »Aber natürlich, wie freundlich.«
»Sie sind doch Kanadier?«
»Selbstverständlich, natürlich. Wie dumm von mir. Bitte, haben Sie Verständnis. Ein Mann in meiner Position wird oft mit gewissen
Ansinnen konfrontiert, die... nun... Sie verstehen.«
»Aber ja, Mr Cloucharde, gewiss doch! Das ist nun mal der Fluch der Prominenz.«
»So ist es.« Cloucharde, ein unfreiwilliger Märtyrer des trostlosen Massengeschmacks, stieß einen tragischen Seufzer aus. »Was soll man zu einem so heruntergekommenen Ort wie diesem sagen?« Er verdrehte die Augen. »Es ist einfach unglaublich. Und man will mich
auch noch über Nacht hier behalten!«
Becker ließ den Blick durch die Halle schweifen. »Ich weiß. Ein Affront geradezu! Es tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, bis
ich kommen konnte.«
Cloucharde sah ihn irritiert an. »Ich habe von Ihrem Kommen gar nichts gewusst!«
Becker wechselte das Thema. »Sie haben da eine böse Beule am Kopf. Haben Sie Schmerzen?«
»Eigentlich nicht. Ich hatte heute Vormittag einen Sturz vom Motorrad – der Dank dafür, dass ich mich als barmherziger Samariter betätigt habe. Dieser Idiot von einem spanischen Polizisten! Einem Mann meines Alters eine Fahrt auf dem Sozius eines Motorrads
zuzumuten! Einfach verantwortungslos.«
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Cloucharde schien nachzudenken. Beckers Aufmerksamkeit tat ihm wohl. »Also, um ehrlich zu sein...« Er reckte den Nacken und drehte den Kopf ein paar Mal von rechts nach links. »Ich könnte noch
ein Kissen gebrauchen, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«
»Überhaupt nicht.« Becker griff sich vom nächsten Feldbett ein Kissen und half Cloucharde, es sich bequem zu machen.
Der alte Mann seufzte behaglich. »Viel besser so! Ich danke Ihnen.«
»Pas de quoi«, gab Becker zurück.
»Ah!« Der Alte lächelte warmherzig. »Sie sprechen die Sprache der zivilisierten Welt!«
»Das war aber auch fast schon alles«, sagte Becker möglichst unbedarft.
»Kein Problem«, erklärte Cloucharde großzügig. »Meine Kolumne erscheint auch in den USA. Mein Englisch ist erstklassig.«
»Wie ich bereits feststellen konnte«, erwiderte Becker lächelnd und setzte sich auf den Rand von Clouchardes Feldbett. »Mr Cloucharde, wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich mir doch die Frage erlauben, weshalb ein Mann wie Sie einen solchen Ort aufsucht.
Sevilla bietet weitaus bessere Krankenhäuser.«
Cloucharde wurde sichtlich böse. »Dieser Schwachkopf von einem Polizisten... erst hat er mich von seinem Motorrad abgeworfen, und dann wollte er mich blutend wie ein angestochenes Schwein auf der
Straße liegen lassen! Ich musste mich zu Fuß hierher schleppen!«
»Hat er Ihnen denn nicht angeboten, Sie in eine bessere Klinik zu bringen?«
»Auf diesem Mordinstrument von einem Motorrad? Ich bitte Sie!«
»Was genau ist denn nun heute Vormittag passiert?«
»Aber das habe ich diesem Polizisten doch schon alles erzählt.«
»Ich hatte bereits Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, und...«
»Ich hoffe, Sie haben ihm ordentlich die Meinung gesagt!«, warf Cloucharde ein.
Becker nickte. »Selbstredend. In schärfster Form. Meine Dienststelle wird noch ein Übriges tun.«
»Das steht zu hoffen!«
»Mr Cloucharde«, sagte Becker lächelnd und zog einen Kugelschreiber aus dem Jackett. »Ich halte es für geboten, bei der Stadtverwaltung formellen Protest einzulegen. Würden Sie mich dabei unterstützen? Die Zeugenaussage eines so prominenten Mannes wie
Sie wäre mir eine wertvolle Stütze.«
Die Aussicht, zitiert zu werden, schien Cloucharde zu schmeicheln. Er setzte sich auf. »Aber ja, natürlich. Mit Vergnügen.«
Becker holte einen kleinen Notizblock aus der Tasche und sah Cloucharde auffordernd an. »Gut. Lassen Sie uns mit dem heutigen Vormittag beginnen. Erzählen Sie, wie es zu Ihrem Unfall gekommen
ist.«
Der alte Herr seufzte. »Es war wirklich schlimm. Dieser arme Asiat ist einfach so zusammengebrochen. Ich habe noch versucht, ihm
zu helfen, aber es hat nichts mehr genützt.«
»Sie haben bei ihm eine Herzmassage versucht?«
Cloucharde schaute Becker erstaunt an. »Ich fürchte, ich weiß gar nicht, wie man das macht. Nein, ich habe einen Krankenwagen
gerufen.«
Becker hatte die bläulichen Verfärbungen auf Tankados Brust vor Augen. »Dann haben wohl die Sanitäter eine Herzmassage
vorgenommen.«
»Himmel, nein!« Cloucharde lachte abwehrend auf. »Es hat doch keinen Sinn, einen toten Gaul mit der Peitsche zu traktieren. Als der Krankenwagen kam, war der Mann schon mausetot. Die Sanitäter haben seinen Puls überprüft und ihn sofort weggeschafft, worauf ich
mich allein mit diesem gräßlichen Polizisten herumärgern musste.«
Das ist merkwürdig, überlegte Becker. Wie kann es dann zu diesen Hämatomen gekommen sein? Er schob das Problem beiseite und widmete sich wieder der Gegenwart. »Da war doch noch ein Ring«,
sagte er so beiläufig wie möglich.
Cloucharde sah ihn überrascht an. »Der Polizist hat den Ring erwähnt?«
»Ja, gewiss doch.«
»Tatsächlich?«, wunderte sich Cloucharde. »Ich hatte den Eindruck, dass er mir die Geschichte nicht abnehmen wollte. Er war
sehr beleidigend zu mir – als ob ich lügen würde. Aber meine Schilderung war absolut detailgenau. Ich darf sagen, dass ich mir auf
meine Präzision etwas zugute halten kann.«
»Wo ist denn der Ring?«, wollte Becker wissen.
Cloucharde schien die Frage nicht zu hören. Er starrte mit leerem Blick ins Ungewisse. »Ein merkwürdiges Stück, dieser Ring – und all diese Buchstaben! Es war eine Sprache, die ich noch nie gesehen
habe.«
»Vielleicht Japanisch?«, meinte Becker. »Mit Bestimmtheit nicht.«
»Dann haben Sie die Inschrift wohl sehr gut erkennen können.«
»Aber ja! Als ich mich hingekniet habe, um dem Mann zu helfen, hat er mir unentwegt mit seinen drei Fingern vor dem Gesicht herumgefuchtelt. Er wollte mir den Ring aufdrängen. Es war bizarr, Furcht erregend geradezu – seine Hände haben ziemlich scheußlich
ausgesehen.«
»Und dann haben Sie den Ring an sich genommen.«
Der Kanadier sah Becker erstaunt an. »Das hat Ihnen der Polizist erzählt? Dass ich den Ring genommen habe?«
Becker rutschte unbehaglich hin und her.
Cloucharde wurde zornig. »Ich hab's doch gewusst, dass der Kerl mir nicht zuhört! So kommt man ins Gerede! Ich habe zu ihm gesagt, der Japaner hätte den Ring weggegeben – aber doch nicht an mich!
Ich würde doch niemals von einem Sterbenden etwas annehmen! Mein Gott, allein schon der Gedanke!«
»Sie haben den Ring also nicht?«, fragte Becker.
»Um Gottes willen, nein!«