Kommunikationen fremder Mächte.
Das Dach des NSA-Hauptgebäudes war mit über fünfhundert Antennen bepflastert, darunter auch zwei voluminöse Antennenkuppeln, die wie zwei riesige Golfbälle wirkten. Die
Dimensionen des Gebäudes selbst waren ebenfalls gigantisch. Mit seinen über 185000 Quadratmetern Nutzfläche war es zweimal so groß wie das Hauptquartier der CIA. An die 2440 Kilometer Kommunikationsleitungen waren in seinem Inneren verlegt, die
Fläche der versiegelten Fenster betrug zigtausend Quadratmeter.
Susan berichtete David von COMINT, der global arbeitenden Erkundungsabteilung der NSA – mit einem jede Vorstellung sprengenden Arsenal von Satelliten, Abhöranlagen, angezapften Leitungen und Agenten in aller Welt. Tag für Tag wurden Tausende von Kommunikees und Gesprächen abgefangen und den Analysten der NSA zugeleitet. Die Entscheidungsfindung des FBI, der CIA und der außenpolitischen Berater der US-Regierung stützte sich zu wesentlichen Teilen auf die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der
NSA.
David Becker war völlig von den Socken. »Und das Dechiffrieren? Wo kommt deine Arbeit ins Bild?«
Susan erläuterte, dass häufig Nachrichten von Regierungen feindlich gesinnter Länder, von gegnerischen Gruppierungen und terroristischen Organisationen, die in zahlreichen Fällen sogar in den USA selbst tätig waren, abgefangen wurden. Die Absender sandten in der Regel verschlüsselte Botschaften – falls ihre Nachricht in die falschen Hände geraten sollte, was dank COMINT in der Regel auch geschah. Wie Susan erläuterte, hatte sie die Aufgabe, den jeweiligen Code zu knacken und die dechiffrierte Botschaft in die Kanäle der
NSA zu leiten... eine Darstellung, die allerdings nicht ganz stimmte.
Susan kam sich mies vor, weil sie ihren Geliebten belügen musste, aber etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig. Vor ein paar Jahren noch wäre diese Version einigermaßen zutreffend gewesen, aber inzwischen wehte bei der NSA ein anderer Wind. Die Welt der Kryptographie hatte sich grundlegend geändert. In Susans Aufgabengebiet herrschte strengste Geheimhaltung, selbst gegenüber
zahlreichen Inhabern höchster Machtpositionen.
»Wenn du nun so einen verschlüsselten Text vor dir hast«, wollte David wissen, »wie weißt du denn, wo du anfangen musst? Ich
meine... wie kommst du dem Code bei?«
Susan lächelte. »Also, wenn überhaupt jemand, dann müsstest du das doch wissen. Es ist wie das Erlernen einer Fremdsprache. Anfangs sieht man nur lauter unverständliches Zeug, aber wenn man allmählich in die Struktur und Regeln des Textes eindringt, gibt er
immer mehr von seiner Bedeutung preis.«
David nickte beeindruckt. Er wollte noch mehr erfahren.
Unter Benutzung der Servietten ihres Lieblings-Italieners und so mancher Konzertprogramme machte Susan sich daran, ihrem charmanten neuen Schüler eine Einführung in die Kryptographie zu
geben. Sie begann mit dem Caesar-Code.
Julius Caesar, erläuterte sie, war unter anderem auch der Erfinder eines Kodierungssystems gewesen. Als seine Boten überfallen und ihnen die geheimen Botschaften entrissen wurden, überlegte er sich eine rudimentäre Methode zum Verschlüsseln seiner Befehle. Zuerst zerlegte er den Text seiner Botschaft nach einem bestimmten System, wodurch er sinnlos wirkte, was er natürlich nicht war. Die Zahl der Buchstaben, aus denen Caesar eine Botschaft zusammensetzte, entsprach dabei stets einer vollen Quadratzahl, also zum Beispiel sechzehn, fünfundzwanzig oder einhundert, je nachdem, wie viel Text er zu übermitteln hatte. Seine Offiziere wussten, dass sie beim Eintreffen einer unverständlichen Mitteilung die Buchstaben von links nach rechts in ein quadratisches Gitter einzutragen hatten. Wenn sie nun die Buchstabenkolonnen von oben nach unten lasen, erschien auf
einmal der zuvor unlesbare geheime Text.
Im Lauf der Zeit übernahmen auch andere die von Caesar entwickelte Methode der Neuanordnung von Texten und modifizierten sie in einer weniger leicht durchschaubaren Weise. Der absolute Höhepunkt der nicht computergestützten
Verschlüsselungsverfahren wurde im Zweiten Weltkrieg erreicht,
als die Nazis eine Verschlüsselungsmaschine namens Enigma bauten. Dieser Apparat bestand aus riesigen ineinander greifenden Walzen, die sich auf raffinierte Weise gegeneinander verdrehten und den Klartext in verwirrende und scheinbar völlig sinnlose Zeichengruppen zerlegten, die nur mit einer zweiten Enigma-Maschine wieder in die richtige Reihenfolge gebracht werden konnten.
David Becker hörte wie gebannt zu. Der Lehrer war zum Schüler geworden.
Eines Abends gab Susan ihm während einer Aufführung der »Nussknacker-Suite« zum ersten Mal einen einfachen Code zu knacken. Während der ganzen Pause rätselte er mit dem Kugelschreiber in der Hand an den zwölf Buchstaben der Botschaft
herum:
HBG KHDAD CHBG
Als vor der zweiten Konzerthälfte die Lichter verlöschten, hatte er es geschafft. Susan hatte einfach die Buchstaben ihrer Botschaft gegen den jeweils vorangehenden des Alphabets ausgetauscht. Zur Entschlüsselung musste man lediglich jeden Buchstaben der Botschaft eine Position des Alphabets weiter rücken – aus A wurde B, aus B wurde C und so weiter. Schnell setzte David auch noch die restlichen Buchstaben an ihren richtigen Platz. Er hätte nie gedacht, dass ihn drei
Wörter so glücklich machen könnten:
ICH LIEBE DICH Eilends schrieb er seine Antwort nieder und hielt sie Susan hin.
HBG CHBG ZTBG
Susan las und strahlte.
David Becker musste lachen. Er war fünfunddreißig Jahre alt, und sein Herz schlug Purzelbäume. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so intensiv zu einer Frau hingezogen gefühlt. Ihre feinen Gesichtszüge und ihre sanften braunen Augen erinnerten ihn an eine Kosmetikreklame von Estée Lauder. Susan mochte zur Teenagerzeit ungelenk und dürr gewesen sein, jetzt war sie es weiß Gott nicht mehr. Irgendwann hatte sie eine gazellenhafte Grazie entwickelt. Sie war groß und schlank, mit festen vollen Brüsten und einem wunderbar flachen Bauch. David witzelte oft, ihm sei noch nie ein Model für Bademoden mit einem Doktortitel in Zahlentheorie und angewandter
Mathematik über den Weg gelaufen.
Die Monate gingen ins Land, und bei beiden verdichtete sich der Verdacht, dass sie es recht gut ein Leben lang miteinander würden
aushalten können.
Sie waren schon fast zwei Jahre zusammen, als David bei einem Wochenendausflug in die Smoky Mountains Susan aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag machte. Sie lagen in Stone Manor in einem großen Himmelbett. David hatte noch nicht einmal einen Ring dabei. Er platzte einfach so damit heraus. Das war es, was Susan so sehr an ihm liebte – seine Spontaneität. Er zog ihr das Negligee von
den Schultern und schlang die Arme um sie.
Sie küsste ihn lang und innig.
»Ich werte das als ein Ja«, hatte er gesagt. In der behaglichen Wärme des Kaminfeuers hatten sie sich die ganze Nacht geliebt.
Diese magische Nacht war nun sechs Monate her. Inzwischen hatte man David überraschend zum Leiter des Instituts für Moderne
Sprachen berufen.
Seitdem ging es mit ihrer Beziehung unaufhaltsam bergab.
KAPITEL 4
Der Piepston der Türsteuerung der Crypto- Abteilung riss Susan aus ihrem trübsinnigen Tagtraum. Die rotierende Türplatte war bereits über die voll geöffnete Position hinausgefahren. In fünf Sekunden würde sie sich wieder geschlossen haben. Susan nahm sich zusammen
und trat durch die Öffnung. Ein Computer registrierte ihren Eintritt.
Seit der Fertigstellung der Crypto-Abteilung vor zweieinhalb Jahren hatte Susan praktisch hier gelebt, doch der Anblick brachte sie immer noch zum Staunen. Der Hauptraum war eine gewaltige halbkugelförmige geschlossene Konstruktion, die fünf Stockwerke in die Höhe ragte. Der Mittelpunkt des lichtdurchlässigen Kuppeldachs lag gut sechsunddreißig Meter über dem Boden. Ein Schutzgewebe aus Polykarbonat, das einem Explosionsdruck von zwei Megatonnen TNT standhalten konnte, war in das Acrylglas eingebettet und ließ das