Ungeachtet der Einschätzung vieler Experten, die den geplanten Super-Codeknacker zum Hirngespinst erklärten, hielt sich die NSA unbeirrbar an ihr bewährtes Motto: Alles ist möglich, Unmögliches
dauert nur etwas länger.
Nach fünf Jahren hatte es die NSA unter Aufwendung einer halben Million Arbeitsstunden und 1,9 Milliarden Dollar wieder einmal geschafft: Der letzte der drei Millionen briefmarkengroßen Spezialprozessoren war eingesetzt, die interne Programmierung abgeschlossen und das keramische Gehäuse verschlossen. Der
TRANSLTR war geboren.
Auch wenn die geheimen inneren Funktionszusammenhänge des TRANSLTR das Produkt vieler Köpfe waren und von keiner einzelnen Person in ihrer Gesamtheit verstanden wurden – das grundsätzliche Funktionsprinzip war sehr simpeclass="underline" Je mehr anpacken,
desto schneller geht es.
Die drei Millionen parallel arbeitender, auf die Entschlüsselung spezialisierter Prozessoren konnten mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit jede nur denkbare Zeichenkombination
durchprobieren. Man hoffte, dass die Zähigkeit des TRANSLTR auch Codes mit unvorstellbar langen Private-Keys in die Knie zwingen würde. Das Multimilliarden-Meisterstück machte sich beim Codeknacken die Kraft des Parallelrechners und einige streng geheime Fortschritte auf dem Gebiet der Klartexterstellung zu Nutze. Es zog seine Rechenkraft nicht nur aus der Schwindel erregenden Anzahl seiner Prozessoren, sondern ebenso aus neuen Entwicklungen der Quanten-Computertechnik – einer Technologie, die Informationen mittels quantenmechanischer Zustände und nicht als binäre
Ladungszustände zu speichern gestattet.
Der Augenblick der Wahrheit kam an einem windigen Donnerstagmorgen im Oktober: der erste Probelauf. Bei aller Ungewissheit der Ingenieure, wie schnell ihre Maschine sein würde, war man sich doch über eines einig: Wenn alle Prozessoren schön parallel arbeiteten, würde der TRANSLTR einiges leisten können. Die
Frage war, wie viel genau war »einiges«...
Die Antwort kam zwölf Minuten später, als das Geräusch des anlaufenden Klartext-Druckers in die gespannte Stille der handverlesenen kleinen Schar der Anwesenden platzte. Der TRANSLTR hatte soeben in kürzester Zeit einen vierundsechzigstelligen Schlüssel geknackt – fast eine Million mal schneller als die zwanzig Jahre, die der zweitschnellste Rechner der
NSA dafür gebraucht hätte.
Unter Führung des stellvertretenden NSA-Direktors, Commander Trevor J. Strathmore, hatte die Fertigungsabteilung der NSA triumphiert. Der TRANSLTR war ein Erfolg. Im Interesse der Geheimhaltung seines Erfolgs ließ Strathmore sofort durchsickern, das Projekt sei komplett in die Hosen gegangen. Die Geschäftigkeit in der Crypto-Kuppel sei nur ein verzweifeltes Bemühen, das ZweiMilliarden-Fiasko noch irgendwie zu retten. Nur die oberste Führungsebene der NSA kannte die Wahrheit: Wie am Fließband
knackte der TRANSLTR täglich Unmengen von Codes.
Während man sich draußen in Sicherheit wiegte und glaubte,
computerverschlüsselte Botschaften seien sicher, liefen bei der NSA die entschlüsselten Geheimnisse in Massen auf. Drogenbarone, Terroristen und Wirtschaftskriminelle, die es leid waren, ihre Mobiltelefone abhören zu lassen, hatten sich begeistert auf das neue Medium der verschlüsselten E-Mail als weltweites verzögerungsfreies Kommunikationsmittel gestürzt. Nie mehr würden sie sich von einem Gericht die Tonbandaufnahme ihrer eigenen Stimme vorspielen lassen müssen, Beweis eines längst vergessenen belastenden Telefongesprächs, das ein Spionagesatellit der NSA aus dem Äther
gefischt hatte.
Noch nie war das Sammeln von nachrichtendienstlichem Material so einfach gewesen. Die von der NSA abgefangenen verschlüsselten Texte wurden als unleserlicher Zeichensalat in den TRANSLTR geschaufelt, der sie Minuten später als einwandfrei lesbaren Klartext
wieder ausspuckte. Mit den Geheimnissen war es vorbei.
Um den Mummenschanz ihrer Inkompetenz komplett zu machen, betätigte sich die NSA als eifrige Lobbyistin gegen jegliche neue Verschlüsselungssoftware für Heimcomputer, die auf den Markt kam. Sie klagte lauthals, diese Programme würden ihr die Hände binden und es den Strafverfolgungsbehörden unmöglich machen, Kriminelle zu enttarnen und vor Gericht zu bringen. Die Bürgerrechtsgruppen lachten sich ins Fäustchen und meinten, die E-Mails der Bürger gingen die NSA ohnehin nichts an. Verschlüsselungssoftware wurde nach wie vor massenweise auf den Markt geworfen. Die NSA hatte eine Schlacht verloren – genau wie geplant. Sie hatte es geschafft, der
ganzen Welt Sand in die Augen zu streuen... so schien es jedenfalls.
KAPITEL 5
Wo sind denn die anderen?, dachte Susan verwundert, während sie durch die verlassene Crypto-Kuppel ging. Merkwürdiger Notfall! Die meisten Abteilungen der NSA waren auch am Wochenende voll besetzt, aber in der Crypto herrschte samstags meistens Ruhe. Kryptographie-Mathematiker waren von Natur aus Workaholics. Deshalb gab es für sie die ungeschriebene Regel, am Samstag blauzumachen. Und daran mussten sie sich auch halten – falls nicht gerade eine Notsituation herrschte. Die Arbeitskraft der Codeknacker war für die NSA enorm wichtig und wertvoll. Man wollte nicht riskieren, dass die Leute ihre Arbeitskraft durch Überarbeitung
vorzeitig ruinierten.
Rechts von Susan ragte übermächtig der TRANSLTR aus dem Boden. Das aus sechs Stockwerken Tiefe heraufdringende Generatorgebrumm hatte heute einen merkwürdig bedeutungsschwangeren Unterton. Susan hatte sich nie gern allein in der Crypto aufgehalten. Sie kam sich immer vor wie mit einem riesigen futuristischen Untier im selben Käfig zusammengesperrt. Sie
beeilte sich, zum Büro des Commanders zu kommen.
Strathmores rundum verglastes Büro, das »Aquarium«, wie es wegen seines Aussehens bei geöffneten Vorhängen allenthalben hieß, hing wie ein Schwalbennest hoch an der hinteren Wand der Crypto-Kuppel. Als Susan über eine Treppe nach oben ging, fiel ihr Blick unwillkürlich auf das Wappen der NSA, das auf Strathmores schwerer
Tür prangte – ein kahlköpfiger Adler mit einem altmodischen Bartschlüssel in den Klauen. Hinter dieser Tür saß einer der großartigsten Männer, denen sie je begegnet war.
Commander Strathmore, der sechsundfünfzigjährige Vizechef der NSA, war für Susan wie ein Vater. Ihm verdankte sie ihre Anstellung. Er hatte die NSA zu ihrer Heimat gemacht. Als Susan vor gut einem Jahrzehnt in die NSA eingetreten war, hatte Strathmore noch die Entwicklungsabteilung der Crypto geleitet, eine Pflanzstätte für junge Kryptographien – junge männliche Kryptographen. Strathmore, der
Reibereien im Team seiner Mitarbeiter ohnehin in keiner Weise duldete, hielt die Hand ganz besonders über seine einzige weibliche Beschäftigte. Vorwürfe der Begünstigung entkräftete er mit der schlichten Wahrheit: Susan Fletcher war eine der fähigsten Anfängerinnen, die er je unter seinen Fittichen gehabt hatte. Er war nicht gewillt, sie wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu
verlieren.
Im ersten Jahr von Susans Anstellung hielt ein etwas älterer Kryptograph es für nötig, Strathmores Entschlossenheit auf die Probe
zu stellen.
Susan hatte eines Morgens ein paar Unterlagen aus dem neuen Aufenthaltsraum der Abteilung holen wollen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte sie auf dem schwarzen Brett ein Foto. Vor lauter Verlegenheit wäre sie am liebsten im Boden versunken. Mit nichts als
einem knappen Slip bekleidet, lag sie da auf einem Bett.
Wie sich herausstellte, hatte der besagte Kryptograph mit dem Scanner Susans Kopf auf ein Foto aus einem Männermagazin
montiert. Das Ergebnis wirkte ziemlich überzeugend.
Zum Leidwesen des Übeltäters fand Commander Strathmore die Sache überhaupt nicht witzig. Zwei Stunden später ging eine seither
unvergessene Vollzugsmeldung durch die Abteilung:
MITARBEITER CARL AUSTIN WEGEN UNGEBÜHRLICHEN VERHALTENS ELIMINIERT.
Von Stund an hatte Susan Fletcher Ruhe. Sie war Commander Strathmores »Golden Girl«.