»Herr Direktor! Herr Direktor!«
KAPITEL 95
Ein paar Leute umstanden den zusammengesunkenen Mann in der ersten Bank. Über ihren Köpfen schwang das Rauchfass friedlich hin und her. Nach links und rechts spähend, lief Hulohot den Mittelgang hinunter. Er muss doch hier sein! Hulohot wandte sich wieder nach
vorne zum Altar.
Dreißig Bankreihen vor ihm wurde nach wie vor die Kommunion ausgeteilt. Padre Gustaphes Herrera, der Hauptzelebrant mit dem Kelch, warf einen neugierigen Blick nach rechts auf die Bank, wo eine kleine Unruhe entstanden war, aber er war nicht irritiert. Manche Gläubige, vor allem ältere, wurden gelegentlich vom Heiligen Geist überkommen und fielen in Ohnmacht. Ein bisschen Frischluft, und sie
waren schnell wieder auf den Beinen.
Hulohot befand sich immer noch fieberhaft auf der Suche. Von Becker war nirgendwo eine Spur zu entdecken. An der langen Kommunionbank vor dem Altar knieten an die hundert Menschen. Falls einer davon David Becker gewesen wäre, hätte Hulohot einen Schuss aus fünfundvierzig Metern riskiert und den Rest im
Sprinttempo erledigt.
Unter den missbilligenden Blicken der zum Empfang der heiligen Kommunion anstehenden Gläubigen hatte Becker sich an die Kommunionbank gedrängt. Der fromme Eifer des Fremden war verständlich, aber das war kein Grund, sich derart ungestüm
vorzudrängen.
Mit gesenktem Kopf kniete Becker sich hin. Hinter sich spürte er eine gewisse Unruhe, eine Störung der Andacht. Er dachte an den Mann, dem er sein Jackett verkauft hatte. Hoffentlich hatte er die Warnung beherzigt und die helle Jacke nicht angezogen. Becker hätte gern einen Blick nach hinten riskiert, wagte es aber nicht – aus Furcht, die Nickelbrille könnte ihm ins Gesicht starren. Hoffentlich war die neue schwarze Jacke hinten lang genug, um die helle Khakihose zu
verdecken. Er machte sich so klein wie möglich.
Von rechts kam der Kelch schnell näher. Die Leute ließen sich die Hostie auf die Zunge legen, bekreuzigten sich, standen auf und gingen. Nicht so schnell! Becker hatte es durchaus nicht eilig, von der Kommunionbank zu verschwinden. Aber wenn zweitausend Menschen die Kommunion empfangen wollten, die von lediglich acht Priestern gespendet wurde, war es schon sehr ungehörig, aus dem
Empfang der Hostie eine umständliche Prozedur zu machen.
Als der Kelch rechts neben Becker angelangt war, hatte Hulohot die hellen Khakihosen erspäht. »Estás ya muerto«, zischte er leise, während er den Mittelgang nach vorne trabte. »Du bist so gut wie tot.« Jetzt war kein Fingerspitzengefühl mehr gefragt. Zwei Schüsse in den Rücken, den Ring gepackt und ab! Der größte Taxistand von Sevilla war noch nicht einmal eine Straßenecke weiter an der Calle
Mateus Gago. Er griff nach der Waffe.
Adiós, señor Becker ...
El cuerpo de Jesús, el pan del cielo. Der Leib Jesu, das Brot des Himmels.
Der glänzende Silberkelch in Pater Herreras Händen senkte sich herab. Becker beugte sich vor. Als der polierte Kelch seine Augenhöhe passierte, sah er in der spiegelnden Wölbung undeutlich
eine ins Unförmige verzerrte Gestalt von hinten an sich herantreten.
Wie ein Hundertmeterläufer beim Startschuss schnellte Becker hoch und flog im Hechtsprung über die Kommunionbank. Der Pater prallte entsetzt zurück. Der Silberkelch segelte durch die Luft, ein Hostienregen ergoss sich auf den weißen Marmor. Priester und Messdiener stoben auseinander. Ein Schuss hustete aus dem Schalldämpfer und fuhr neben dem hart aufkommenden Becker spritzend in den Marmorboden. Sekundenbruchteile später stolperte Becker drei Granitstufen in das valle hinunter, einen schmalen Zugang
zum Altarraum, der es den Geistlichen gestattete, gleichsam durch die Gnade Gottes emporgehoben neben dem Altar aus dem Boden zu
wachsen.
Am Fuß der Stufen glitt Becker aus und ging zu Boden. Er landete auf der verwundeten Seite und schlidderte unkontrolliert über den polierten Steinboden. Ein qualvoller Schmerzblitz zuckte durch seine Eingeweide. Er rappelte sich hoch, taumelte durch einen Vorhang in
einen Gang und gleich darauf ein paar hölzerne Stufen hinunter.
Becker rannte durch die Ankleide einer Sakristei. Es war dunkel. Vom Altarraum drang wüstes Geschrei herunter. Laute Fußtritte polterten hinter ihm her. Becker platzte durch eine Doppeltür und stolperte in eine Art Studierzimmer, einen düsteren, mit dicken Orientteppichen und glänzenden Mahagonimöbeln ausgestatteten Raum. An der gegenüberliegenden Wand hing ein lebensgroßes
Kruzifix. Taumelnd hielt Becker inne. Eine Sackgasse.
Er hörte schnell näher kommende Schritte. Becker starrte das Kruzifix an.
»Verdammt nochmal!«, schrie er.
Zu seiner Linken hörte er ein Räuspern. Er fuhr herum. Ein geistlicher Würdenträger in roter Robe hob den Blick aus seinem
Brevier und sah Becker entgeistert an.
»jSalida!«, schrie Becker. »Der Ausgang!«
Kardinal Guerra reagierte prompt. Ein Dämon war zu einem leider höchst unpassenden Zeitpunkt in seine geheiligte Kammer eingebrochen und flehte kreischend um Entlassung aus dem Hause Gottes - ein Begehren, dem Guerra ebenso umgehend wie mühelos
nachzukommen vermochte.
Der Kardinal deutete auf einen Vorhang links an der Wand, hinter dem sich eine Tür verbarg, die direkt auf den Hof hinausführte. Er hatte sie vor drei Jahren in die Mauer brechen lassen, nachdem er es leid geworden war, die Kathedrale wie ein gewöhnlicher Sünder durch
das Hauptportal betreten zu müssen.
KAPITEL 96
Susan war völlig durchnässt. Zitternd kuschelte sie sich in die
Polster der Couch von Node 3 . Strathmore breitete fürsorglich sein Jackett über sie. Wenige Meter entfernt lag Hales Leiche. Die Alarmhörner plärrten. Das Gehäuse des TRANSLTR gab ein scharfes Knacken von sich. Es klang wie tauendes Eis auf einem zugefrorenen
Teich.
»Ich werde jetzt hinuntersteigen und den Strom abschalten«, sagte Strathmore und legte Susan aufmunternd die Hand auf die Schulter.
»Bin gleich wieder da.«
Der Commander eilte durch die Kuppel davon. Susan sah ihm mit abwesendem Blick hinterher. Der Schockzustand, in dem sie diesen Mann noch vor zehn Minuten erlebt hatte, war wie weggeblasen.
Commander Trevor Strathmore war wieder der Alte – rational, Herr
seiner Gefühle und fähig, situationsgerecht zu handeln.
Die letzten Worte von Hales Abschiedsbrief brausten durch Susans Hirn wie ein außer Kontrolle geratener D-Zug. Ganz besonders bedauere ich die Sache mit David Becker. Susan, bitte vergib mir. Der
Ehrgeiz hat mich blind gemacht.
Susans schlimmste Befürchtungen hatten sich bestätigt. David drohte Gefahr ... oder Schlimmeres. Vielleicht war es schon zu spät.
Sie betrachtete den Abschiedsbrief. Hale hatte ihn noch nicht
einmal unterschrieben. Er hatte lediglich seinen Namen darunter getippt: Greg Hale. Nachdem er sich schriftlich ausgekotzt hatte, hatte er den Druckbefehl gegeben und sich erschossen – einfach so. Hale hatte seinen Schwur gehalten, nie wieder ins Gefängnis zu gehen, und
lieber den Tod gewählt. »David ...«, schluchzte Susan. David!
Zur gleichen Zeit trat Commander Strathmore von der Einstiegsleiter auf die drei Meter unter dem Kuppelboden aufgehängte oberste Arbeitsplattform. Der heutige Tag hatte ihm ein Fiasko nach dem anderen beschert. Was als patriotischer Feldzug begonnen hatte, war mittlerweile zu einer wilden Schleuderpartie ausgeartet. Der Commander hatte sich zu unmöglichen Entscheidungen und scheußlichen Taten gezwungen gesehen – zu Taten, die er sich selbst