Strathmores junge Kryptographen waren nicht die Einzigen, die ihn zu respektieren lernten. Schon früh in seiner Karriere hatte er sich seinen Vorgesetzten durch einige unorthodoxe, aber höchst wirkungsvolle nachrichtendienstliche Operationen empfohlen, die auf seinen Vorschlag hin durchgeführt wurden. Während Trevor Strathmore sich allmählich emporarbeitete, machte er sich für seine klugen und das Wesentliche kurz und bündig herausarbeitenden Analysen hochkomplexer Situationen einen Namen. Er schien eine nachgerade unheimliche Fähigkeit zu haben, ohne Gewissenskonflikte und unbelastet von der komplizierten moralischen Einbettung der schwierigen Entscheidungen der NSA, allein dem Gemeinwohl
verpflichtet denken und handeln zu können.
An Strathmores Vaterlandsliebe bestand für niemand auch nur der geringste Zweifel. Seine Kollegen schätzten ihn als Patrioten und Visionär... als einen Ehrenmann in einer Welt der Unaufrichtigkeit
und Täuschungen.
In den Jahren vor Susans Eintritt in die NSA hatte Strathmore einen kometenhaften Aufstieg vom Abteilungsleiter zum stellvertretenden NSA-Direktor absolviert. Es gab nur noch einen Mann über ihm: Direktor Leland Fontaine, den geheimnisumwitterten, alles beherrschenden Hausherrn des Rätsel-Palasts – nie gesehen, selten gehört und allzeit gefürchtet. Er und Strathmore hatten wenig persönlichen Kontakt, aber wenn es doch einmal dazu kam, war es eher ein Zusammenprall von Giganten. Fontaine war ein Titan unter Titanen, aber das schien Strathmore wenig zu beeindrucken – er vertrat seine Vorstellungen vor seinem obersten Chef mit der Zurückhaltung eines Preisboxers. Noch nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten nahm sich heraus, Fontaine in der Weise anzugehen, wie Strathmore es tat. Ein solches Verhalten konnte sich nur jemand leisten, der politisch immun war – oder absolut
indifferent, wie Strathmore. Susan war am Ende des Treppenaufgangs angekommen. Sie hatte noch nicht geklopft, als Strathmores Türöffner
bereits summte. Die Tür schwang auf, und der Commander winkte sie herein.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sie haben jetzt bei mir einen Gefallen gut.«
»Keine Ursache.« Lächelnd nahm Susan vor seinem Schreibtisch Platz.
Strathmore war ein hoch gewachsener kräftiger Mann, dessen gleichmütiger Gesichtsausdruck seine unbeirrbare Effizienz und seinen Perfektionsdrang kaum ahnen ließ. Die grauen Augen, sonst ein Spiegel seines aus langer Erfahrung gewonnenen Selbstvertrauens
und seiner Besonnenheit, blickten beunruhigt und unstet in die Welt.
»Sie sehen ziemlich fertig aus«, bemerkte Susan.
»Allerdings«, seufzte Strathmore. »Es ist mir schon mal besser gegangen.«
Das kann man aber laut sagen!, dachte Susan. Strathmore sah schlechter aus, als sie ihn je erlebt hatte. Sein dünner werdendes Haar war zerwühlt. Ungeachtet der voll aufgedrehten Klimaanlage standen Schweißperlen auf seiner Stirn. Er wirkte, als hätte er in den Kleidern
geschlafen.
Strathmore saß an einem modernen Schreibtisch mit zwei in die Platte eingelassenen Keypads und einem Monitor. Der mit Computerausdrucken übersäte Tisch mitten in dem von den vorgezogenen Vorhängen abgeschirmten Raum sah aus wie ein
futuristisches Cockpit.
»Harte Woche?«, erkundigte sich Susan.
»Das Übliche«, gab Strathmore achselzuckend zurück. »Die EFF macht mir wieder einmal mit ihrem ewigen Datenschutz die Hölle
heiß.«
Susan lachte verständnisvoll. Die Electronic Frontier Foundation, oder kurz EFF, war eine weltweite Vereinigung von Computernutzern, die sich zu einer machtvollen Bürgerrechtslobby zusammengeschlossen hatten. Sie trat für das Recht auf freie Meinungsäußerung im Internet ein und versuchte der Öffentlichkeit die Gefahren einer durch die elektronischen Medien beherrschten Welt nahe zu bringen. Die EFF befand sich auf einem Dauerkreuzzug gegen die »in orwellsche Dimensionen ausufernden Abhörmöglichkeiten des Regierungsapparats«, speziell der NSA. Sie
war ein Pfahl in Strathmores Fleisch.
»Klingt eigentlich, als wäre alles wie immer«, sagte Susan. »Worin besteht denn nun der schlimme Notfall, für den Sie mich aus der
Wanne geholt haben?«
Strathmore saß regungslos da. Geistesabwesend befingerte er den in die Schreibtischplatte eingelassenen Trackball. Nach längerem Schweigen sah er Susan fest in die Augen. »Wie lange hat der TRANSLTR Ihres Wissens bei seinem bisher längsten Recheneinsatz
an einem Code herumgerechnet?«
Strathmores Frage traf Susan völlig unvorbereitet. Sie konnte sich nicht vorstellen, worauf der Commander hinauswollte. Dafür hat er
dich antreten lassen?
»Nun...« Sie zögerte. »Vor ein paar Wochen hat COMINT eine Mail abgefangen, für die wir ungefähr eine Stunde gebraucht haben.
Aber sie hatte auch einen abartig langen Schlüssel...«
»Eine Stunde?«, grunzte Strathmore. »Und die Testprogramme für die Rechnerleistung, die bei uns gelaufen sind?«
Susan zuckte die Achseln. »Wenn Diagnoseprogramme mitlaufen, dauert es natürlich etwas länger.«
» Wie viel länger?«
Susan hatte immer noch keine Ahnung, in welche Richtung Strathmores Fragen zielten. »Im vergangenen März, Sir, habe ich einen Algorithmus mit einem segmentierten Mega-Bit-Schlüssel getestet. Dazu illegitime Schleifenfunktionen, Zellularautomaten, eben alles, was einem Rechner Mühe macht. Der TRANSLTR hat es
trotzdem geschafft.«
»Und wie lang hat er gebraucht?« »Drei Stunden.«
Strathmore hob die Brauen. »Drei Stunden? So lang?«
Etwas befremdet runzelte Susan die Stirn. Während der letzten drei Jahre war die Feinabstimmung des geheimsten Computers der Welt ihr Arbeitsgebiet gewesen. Der größte Teil der Programmierung, die ihn so schnell gemacht hatte, war auf ihr Konto gegangen. Ein Schlüssel mit einer Million Bit war wohl kaum ein realistisches
Szenario.
»Okay«, sagte Strathmore. »Bisher hat also selbst unter extremen Bedingungen kein Code länger als drei Stunden im TRANSLTR
überlebt?«
»So ist es.«
Strathmore machte eine Pause, als befürchte er, etwas preiszugeben, das er später bedauern könnte. Schließlich hob er den
Blick. »Unser TRANSLTR ist auf etwas gestoßen...« Er verstummte.
Susan wartete ab. »Er rechnet schon länger als drei Stunden?«, erkundigte sie sich schließlich.
Strathmore nickte.
Susan schien sich keine Sorgen zu machen. »Vielleicht ein neues Diagnoseprogramm? Etwas von der System-Security-Abteilung?«
Strathmore schüttelte den Kopf. »Eine Datei von draußen.«
Susan wartete auf die Pointe, aber es kam keine. »Eine Datei von draußen? Das ist doch nicht Ihr Ernst!«
»Ich wünschte, es wäre so. Ich habe sie gestern Nacht gegen halb elf Uhr eingegeben. Die Dechiffrierung läuft immer noch.«
Susan blieb der Mund offen stehen. Sie schaute auf ihre Uhr und dann wieder zu Strathmore. »Sie läuft immer noch? Seit über
fünfzehn Stunden?«
Strathmore beugte sich vor und drehte Susan den Monitor zu. Der Bildschirm war schwarz bis auf ein kleines gelbes Textfenster, das in
der Mitte blinkte.
BISHERIGE RECHENZEIT: 15:09:33 VORAUSSICHTLICHE RECHENZEIT:
Susan starrte auf den Bildschirm. Sie konnte nur noch staunen. Der TRANSLTR arbeitete schon seit über fünfzehn Stunden an ein und demselben Code, und ein Ende war noch gar nicht abzusehen? Sie wusste, dass seine Prozessoren jede Sekunde dreißig Millionen mögliche Schlüsselkombinationen durchprobierten – das machte pro Stunde über hundert Milliarden! Wenn der TRANSLTR immer noch mit dem Durchzählen beschäftigt war, musste der Schlüssel gigantisch sein – über zwanzig Milliarden Stellen lang. Es war der absolute
Wahnsinn.
»Das ist unmöglich!«, sagte sie entschieden. »Haben Sie schon nach Fehlermeldungen gesucht? Vielleicht hat der TRANSLTR eine
kleine Macke und...«