geht noch nicht einmal an sein vermaledeites Telefon!«
KAPITEL 98
Hulohot stürmte aus Kardinal Guerras Gemach hinaus ins blendende Licht der Morgensonne. Fluchend beschirmte er die Augen. Er stand neben der Kathedrale in einem Innenhof, der von einer hohen Mauer, der Westfassade des Giraldaturms und zwei schmiedeeisernen Gitterzäunen begrenzt wurde. Der Platz war leer, das Tor zum Vorplatz der Kathedrale offen. Im Hintergrund war das Gemäuer von Santa Cruz zu sehen. Becker konnte unmöglich in so kurzer Zeit bis dorthin gelangt sein. Hulohot wandte seine Aufmerksamkeit wieder
dem Innenhof zu. Er ist hier. Er kann nur hier sein!
Dieser Innenhof, der Patio de los Naranjos, war in ganz Sevilla wegen seiner zwanzig blühenden Orangenbäume berühmt. Die Bäume galten in Sevilla als der Ursprungsort der bekannten englischen Orangenmarmelade. Im achtzehnten Jahrhundert hatte angeblich ein englischer Kaufmann dem Domkapitel von Sevilla eine halbe Tonne Orangen abgekauft und nach London verfrachtet, wo er die Früchte wegen ihres bitteren Geschmacks ungenießbar fand. Er versuchte, daraus Marmelade zu kochen, aber weil er die Schalen mitverwendet hatte, musste er zentnerweise Zucker zusetzen, um den Sud genießbar zu machen – und die berühmte englische Orangenmarmelade war
geboren.
Mit erhobener Waffe strich Hulohot durch den Orangenhain. Die
Bäume waren alt, das Blattwerk begann erst weit oben. Schon die untersten Äste waren unerreichbar, und die dünnen Stämme boten keine Deckung. Der Patio war leer, das hatte Hulohot schnell
begriffen. Er sah nach oben. Die Giralda.
Der Eingang zum Wendeltreppenaufgang des Turmes war durch eine dicke Kordel mit einem hölzernen Täfelchen versperrt. Kordel und Täfelchen hingen bewegungslos. Hulohots Blick wanderte den dreiundneunzig Meter hohen Turm hinauf. Der Gedanke war einfach lächerlich. So viel Blödheit war Becker nicht zuzutrauen. Die Wendeltreppe wand sich hinauf zu einer viereckigen Turmkammer
mit Aussichtsöffnungen, von der aus es nicht mehr weiterging.
David Becker erklomm die letzten Stufen der steilen Wendeltreppe und stolperte atemlos in eine kleine Aussichtskammer. Hohe Mauern
mit schmalen Sehschlitzen umschlossen ihn. Nirgendwo ein Ausgang.
Das Schicksal hatte es mit ihm in den letzten Minuten nicht gut gemeint. Als er in den offenen Hof hinausgeflitzt war, hatte sich die Tasche seines schäbigen Jacketts in der Türklinke verfangen. Der Stoff war zwar sofort ausgerissen, aber der Ruck hatte Becker nach rechts aus der Bahn geschleudert. Um sein Gleichgewicht ringend, war er ins blendende Sonnenlicht getaumelt und auf ein Treppenhaus zugerannt. Er war über die Absperrkordel gesprungen und einfach weitergelaufen. Als er merkte, wohin die Treppe führte, war es schon
zu spät.
Becker stand wie in einer Zelle eingesperrt und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Die Morgensonne flutete in schmalen Lichtbündeln durch die Wandschlitze herein. Becker schaute hinaus. Tief unten stand der Mann mit der Nickelbrille mit dem Rücken zum Turm und starrte auf die Plaza. Becker veränderte seine Position. So hatte er einen besseren Blick. Und jetzt mach, dass du fortkommst!,
versuchte er seinen Verfolger zu beschwören. Mach schon, hau ab!
Wie der Stamm eines gefällten Mammutbaums lag der Schatten der Giralda quer über der Plaza. Hulohot schaute die dunkle Schattensäule entlang. Am Ende, wo das Licht durch die Aussichtsöffnungen quer durch die Turmkammer drang, zeichneten sich auf dem Kopfsteinpflaster drei schmale helle Vierecke ab. In einem dieser hellen Vierecke hatte sich soeben der Schatten eines Mannes bewegt. Ohne auch nur eine Sekunde zum Turm hinaufzuschauen, wirbelte Hulohot herum und stürmte zur
Wendeltreppe der Giralda.
KAPITEL 99
Fontaine hieb die Faust in die offene Handfläche. Er ging im Konferenzraum auf und ab und schaute immer wieder hinüber zum Lichtergeflacker in der Cryptokuppel. »Programm abbrechen!
Abbrechen, verdammt nochmal!«, rief er beschwörend.
Midge erschien auf der Schwelle und wedelte mit einem frischen Ausdruck. »Sir, Strathmore kann keinen Abbruch vornehmen!«
»Wie bitte?« Brinkerhoff und Fontaine schnappten unisono nach Luft.
»Er hat es bereits versucht, Sir.« Midge hielt ihren Ausdruck hoch. »Viermal schon. Der TRANSLTR hängt in einer Programmschleife
fest!«
Fontaine fuhr herum und starrte wieder zum Fenster hinaus. »Oh, mein Gott!«
Das Telefon schrillte. »Na endlich!«, atmete Fontaine auf. »Das muss Strathmore sein. Wird aber auch Zeit!«
Brinkerhoff nahm ab. »Büro des Direktors«, meldete er sich.
Fontaine streckte die Hand aus, um sich den Hörer geben zu lassen, doch Brinkerhoff sah ihn unsicher an und wandte sich an
Midge. »Jabba ist dran. Er möchte dich sprechen.«
Fontaine sah Midge befremdet an, die schon auf dem Weg zum Telefonapparat war und die Lautsprechertaste drückte. »Jabba, leg
los.«
Jabbas Stimme plärrte metallisch in den Raum. »Midge, ich bin jetzt unten in der Datenbank. Wir kriegen hier ein paar komische
Sachen angezeigt. Ich wollte nur wissen, ob du vielleicht ...«
»Verdammt nochmal, Jabba! Was habe ich dir die ganze Zeit in dein dämliches Hirn zu prügeln versucht?« Midge geriet richtig in
Fahrt.
»Es muss nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben«, sagte Jabba hinhaltend, »aber ...«
»Hör mir bloß auf mit ›nicht unbedingt‹! Bei uns gibt es kein ›nicht unbedingt‹! Egal, was du da unten angezeigt bekommst, nimm es gefälligst ernst, sehr ernst! Übrigens: In meinen Daten ist kein Wurm — ist nie einer gewesen und wird auch nie einer sein!« Sie machte Anstalten einzuhängen, hielt aber inne. »Ach, Jabba, nur der
Vollständigkeit halber: Strathmore hat deinen Gauntlet umgangen.«
KAPITEL 100
Hulohot rannte die Wendeltreppe der Giralda hoch. Das einzige Licht kam durch schmale fensterlose Öffnungen herein, die nach jeder halben Drehung in die Mauer gebrochen waren. Er sitzt in der Falle! David Becker wird sterben! Mit gezogener Pistole schraubte Hulohot sich an der Außenseite der Treppe zügig nach oben. An jedem Treppenabsatz hingen lange schmiedeeiserne Kerzenhalter an der Wand, die eine gute Waffe abgegeben hätten, falls Becker einen Angriff riskieren sollte. Aber von der Außenseite der Treppe her konnte Hulohot den Gegner früh genug erkennen – und seine Pistole hatte eine größere Reichweite als die anderthalb Meter, die ein solcher
Kerzenhalter lang war.
Rasch, aber vorsichtig bewegte sich Hulohot nach oben. Die Treppe war sehr steil. Touristen waren hier schon zu Tode gekommen. Man war eben nicht in Amerika – kein Handlauf, keine Warnschilder, keine Hinweise auf etwaige Risiken. Wer hier stürzte, war selber
schuld.
An einer der schulterhohen Wandöffnungen hielt Hulohot inne und schaute hinaus. Er befand sich an der Nordflanke des Turms und nach
der Aussicht zu schließen inzwischen weit über der halben Höhe.
Der Rest des Treppenhauses bis zur Mündung der Treppe in die Aussichtskammer kam ins Blickfeld. Es war leer. David Becker hatte
auf einen Angriff verzichtet. Womöglich war ihm sogar entgangen, dass Hulohot in den Turm gerannt war – und das hieß, dass Hulohot das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte. Nicht, dass er es gebraucht hätte, sämtliche Trümpfe waren ohnehin in seiner Hand. Selbst die Bauart des Turms kam ihm entgegen. Von der südwestlichen Ecke der Aussichtskammer, wo die Treppe mündete, hatte Hulohot freies Schussfeld in jeder Richtung. Becker konnte unmöglich in seinen Rücken gelangen. Und obendrein kam Hulohot aus dem Dunkeln ins Helle. Eine richtige Hinrichtungskammer, freute er sich.
Bis zum Treppenende waren es noch sieben Stufen. Ein letztes Mal spielte er Beckers Liquidierung durch. Wenn er zur Innenseite wechselte, konnte er die äußere linke Ecke der Kammer einsehen, bevor er ganz oben war. Falls Becker dort stand, konnte er ihn sofort erledigen, falls nicht, würde er zur Außenseite wechseln, von wo er nach einem schnellen Sprung in die Kammer die rechte Seite unter Beschuss nehmen konnte, wo Becker dann notgedrungen stehen