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John Grisham

Die Akte

Buch

In einer Oktobernacht werden zwei Richter am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten ermordet: Abe

Rosenberg, mit einundneunzig fast schon eine liberale Legende, und Glenn Jensen, das jüngste und umstrittenste Mitglied des Gerichts. Hinweise besagen, dass es sich in beiden Fällen um denselben Täter handelt — einen professionellen Killer. Aber es gibt kein gemeinsames Motiv. FBI und CIA sind ratlos.

Doch dann hat Darby Shaw, Jurastudentin an der Tulane University in New Orleans, eine einleuchtende Idee. Tagelang arbeitet sie an den Computern der Juristischen Bibliothek und stößt dabei auf einen Zusammenhang zwischen den beiden Mordfällen — einen Zusammenhang, der den Mordverdacht auf eine bestimmte Person lenkt. Sie fasst ihre Ergebnisse in einer Akte zusammen: ein gefährliches Schriftstück, wenn es in die falschen Hände gerät. Denn offenbar hat der Verdächtige einflussreiche Freunde in Washington, D.C. - genauer gesagt: im Weißen Haus.

Nur durch Zufall entgeht Darby einem Bombenanschlag. Ihr Freund kommt dabei ums Leben: er hat die Akte gelesen. Darby begreift, dass irgendwer entschlossen ist, auch sie umzubringen. Allein und verängstigt verschwindet sie in den anonymen Schatten des French Quarter von New Orleans; sie weiß, dass es ums Überleben geht. Ein Bericht über den Richtermord bringt sie in Verbindung mit dem Reporter Gray Grantham von der Washington Post. Und es dauert nicht lange, bis Gray erkennt: Hinter den Machenschaften der Verfolger lauert ein politischer Skandal auf höchster Regierungsebene — der brisanteste Skandal seit Watergate.

EINS

Kaum zu glauben, dass er noch imstande war, ein solches Chaos auszulösen. Aber vieles von dem, was er da unten sah, ging auf sein Konto. Und das war erfreulich. Er war einundneunzig, halb gelähmt, an einen Rollstuhl gefesselt und auf Sauerstoffzufuhr angewiesen. Sein zweiter Schlaganfall vor sieben Jahren hatte ihm beinahe den Rest gegeben. Dennoch war Richter Abraham Rosenberg nach wie vor am Leben, und selbst mit Schläuchen in der Nase führte er im Obersten Bundesgericht immer noch ein gewichtigeres Wort als seine acht Kollegen. Er war die einzige Legende, die dem Gericht geblieben war; und allein der Umstand, dass er immer noch atmete, brachte den größten Teil des Mobs da unten auf der Straße in Aufruhr.

Er saß in seinem Rollstuhl in seinem Büro im Gebäude des Gerichts. Seine Füße berührten die Fensterkante, und er beugte sich vor, als der Lärm anschwoll. Er hasste Polizisten, aber zu sehen, wie sie in dichten, ordentlichen Reihen dastanden, war doch ein wenig beruhigend. Sie standen unerschütterlich da, während der Mob, mindestens fünfzigtausend Menschen, nach Blut schrie.

«So viele waren es noch nie!«krächzte Rosenberg, ohne sich umzusehen. Er war fast taub. Jason Kline, sein ältester Mitarbeiter, stand hinter ihm. Der erste Montag im Oktober, der Eröffnungstag der neuen Sitzungsperiode, war zu einer traditionellen Feier des Ersten Verfassungszusatzes ausgeartet — einer grandiosen Feier. Rosenberg war begeistert. Für ihn war Redefreiheit gleichbedeutend mit Freiheit zu Demonstration und Aufruhr.

«Sind die Indianer dabei?«fragte er laut.

Jason Kline beugte sich zu seinem rechten Ohr.»Ja!«

«In voller Kriegsbemalung?«

«Ja! Mit allem, was dazugehört.«

«Tanzen sie?«

«Ja!«

Die Indianer, die Schwarzen, Weißen, Braunen, Frauen, Schwulen, Naturschützer, Christen, Abtreibungsaktivisten, Arier, Nazis, Atheisten, Jäger, Tierfreunde, weiße Suprematisten, schwarze Suprematisten, Steuerverweigerer, Farmer — es war ein gewaltiges Meer des Protestes. Und die Einsatzkommandos der Polizei umklammerten ihre schwarzen Stöcke.

«Die Indianer sollten mich lieben!«

«Das tun sie bestimmt. «Kline nickte und lächelte den gebrechlichen kleinen Mann mit den geballten Fäusten an. Seine Ideologie war simpeclass="underline" die Regierung rangierte vor dem Geschäft, der Einzelne vor der Regierung und die Umwelt vor allem anderen. Und was die Indianer betraf — gebt ihnen, was immer sie haben wollen.

Das Beten, Singen, Skandieren, Rufen und Schreien wurde lauter. Die Polizisten rückten näher zusammen. Der Mob war größer und wütender als in den vorausgegangenen Jahren. Die Atmosphäre war gespannter. Gewalt war an der Tagesordnung. Auf Abtreibungskliniken waren Bombenattentate verübt worden. Ärzte hatte man angegriffen und verprügelt. In Pensacola war einer umgebracht worden, geknebelt, in der Position eines Fetus zusammengeschnürt und mit Säure verätzt. Allwöchentlich kam es zu Straßenschlachten. Militante Schwule hatten Geistliche und Kirchen attackiert. Weiße Suprematisten hatten sich zu einem Dutzend bekannter, finsterer paramilitärischer Organisationen formiert und waren bei ihren Angriffen auf Schwarze, Lateinamerikaner und Asiaten wesentlich kühner geworden. Hass war Amerikas beliebtester Zeitvertreib.

Und natürlich war das Gericht eine bequeme Zielscheibe. Drohungen, ernstzunehmende Drohungen gegen die Richter hatten sich seit 1990 verzehnfacht. Der Polizeischutz des Obersten Bundesgerichts war verdreifacht worden. Mindestens zwei FBI-Agenten waren mit der Bewachung jedes Richters beauftragt und weitere fünfzig damit beschäftigt, den Drohungen nachzugehen.

«Sie hassen mich, nicht wahr?«sagte er laut und schaute aus dem Fenster.

«Ja, etliche von ihnen tun das«, erwiderte Kline belustigt.

Rosenberg freute sich, das zu hören. Er lächelte und inhalierte tief. Achtzig Prozent der Drohungen waren gegen ihn gerichtet.

«Haben sie auch Transparente bei sich?«fragte er. Er war fast blind.

«Eine ganze Menge.«

«Was steht drauf?«

«Das Übliche. Rosenberg soll zurücktreten. Nieder mit Rosenberg. Schluss mit dem Sauerstoff.«

«Solche blöden Sprüche klopfen sie schon seit Jahren. Warum lassen sie sich nicht mal was Neues einfallen?«

Kline antwortete nicht. Abe hätte schon vor Jahren zurücktreten sollen, aber eines Tages würden sie ihn auf einer Bahre hinaustragen. Seine drei Mitarbeiter erledigten den größten Teil der Recherchen, aber Rosenberg bestand darauf, seine Urteile selbst zu schreiben. Er tat es mit einem dicken Filzstift und kritzelte seine Worte auf große Kanzleibögen, ungefähr wie ein ABC-Schütze, der gerade schreiben lernt. Es war ein langsames Arbeiten, aber was macht das schon, wenn man auf Lebenszeit in sein Amt berufen ist? Die Mitarbeiter überprüften seine Urteile und fanden selten einen Fehler.

Rosenberg kicherte.»Wir sollten den Indianern Runyan zum Fraß vorwerfen. «John Runyan war der Gerichtspräsident, ein zäher Konservativer, von einem Republikaner ernannt und bei den Indianern und den meisten anderen Minderheiten unbeliebt. Sieben der neun Richter waren von republikanischen Präsidenten ernannt worden. Seit fünfzehn Jahren wartete Rosenberg auf einen Demokraten im Weißen Haus. Er wollte aufhören, musste aufhören, aber den Gedanken, dass ein Stockkonservativer vom Typ Runyans seinen Sitz einnehmen könnte, ertrug er nicht.

Er konnte warten. Er konnte hier in seinem Rollstuhl sitzen und Sauerstoff atmen und für die Indianer, die Schwarzen, die Frauen, die Armen, die Behinderten und den Umweltschutz eintreten, bis er hundertfünf war. Und kein Mensch auf der Welt konnte auch nur das mindeste dagegen unternehmen, es sei denn, man brachte ihn um. Und das wäre nicht einmal die schlechteste Lösung.

Sein Kopf schwankte, dann taumelte er und sank auf seine Schulter. Er war eingeschlafen. Kline zog sich leise zurück und machte sich wieder an seine Recherchen in der Bibliothek. Er würde in einer halben Stunde wiederkommen, um den Sauerstoff zu überprüfen und Abe seine Medikamente zu geben.

Das Büro des Gerichtspräsidenten liegt im Hauptgeschoss und ist größer und besser ausgestattet als die anderen acht. Der äußere Raum wird für kleine Empfänge und formelle Veranstaltungen benutzt; im inneren arbeitet der Präsident.