Richter Andrew McDowell, mit einundsechzig jetzt das jüngste Mitglied des Gerichts, stand am Fenster, rauchte seine Pfeife und beobachtete den Verkehr. Wenn Jensen im Gericht einen Freund gehabt hatte, dann war es McDowell.
Fletcher Coal hatte Runyan mitgeteilt, dass der Präsident nicht nur an Jensens Beisetzung teilzunehmen gedachte, sondern auch eine Grabrede halten wollte. Niemand im inneren Büro wollte, dass der Präsident sich äußerte. Runyan hatte McDowell gebeten, ein paar Worte aufzusetzen. McDowell, ein schüchterner Mann, der nur ungern Reden hielt, drehte seine Kragenschleife und versuchte, sich seinen Freund auf dem Balkon mit einem Seil um den Hals vorzustellen. Es war zu grauenhaft, um darüber nachzudenken. Ein Richter des Obersten Bundesgerichts, einer seiner distinguierten Kollegen, einer der neun, schlich sich an einen solchen Ort, sah sich diese Filme an und wurde auf derart grässliche Art bloßgestellt. Wie tragisch und peinlich zugleich. Er sah sich selbst, wie er vor den Trauergästen in der Kirche stand und Jensens Mutter und die anderen Angehörigen ansah und genau wusste, dass alle an das Montrose Theatre dachten. Sie würden sich gegenseitig im Flüsterton fragen,»Haben Sie gewusst, dass er schwul war?«McDowell jedenfalls hatte es nicht gewusst, nicht einmal geargwöhnt. Und er wollte auch nicht bei der Beisetzung reden.
Richter Ben Thurow, achtundsechzig Jahre alt, ging es weniger darum, die Toten zu begraben, als die Mörder dingfest zu machen. Er war Staatsanwalt in Minnesota gewesen, und seine Theorie ordnete die Verdächtigen einer von zwei Gruppen zu: Leute, die aus Hass oder Rache handelten, und solche, die künftige Entscheidungen beeinflussen wollten. Er hatte seine Mitarbeiter angewiesen, mit den Recherchen anzufangen.
Thurow wanderte im Büro herum.»Wir sind sieben Richter und siebenundzwanzig Mitarbeiter«, sagte er in den Raum hinein, ohne jemanden direkt anzusprechen.»Dass wir in den nächsten Wochen nicht viel tun können, liegt auf der Hand. Alle wichtigen Entscheidungen müssen aufgeschoben werden, bis wir wieder vollzählig sind. Das kann Monate dauern. Deshalb meine ich, unsere Mitarbeiter sollten sich an die Arbeit machen und versuchen, die Morde aufzuklären.«
«Wir sind nicht die Polizei«, sagte Manning geduldig.
«Können wir nicht wenigstens bis nach den Beisetzungen warten, bevor wir anfangen, Dick Tracy zu spielen?«fragte McDowell, ohne sich vom Fenster abzuwenden.
Thurow ignorierte sie, wie gewöhnlich.»Ich werde die Nachforschungen leiten. Überlassen Sie mir für ein oder zwei Wochen Ihre Mitarbeiter. Ich bin sicher, dann können wir eine Liste von eindeutig Verdächtigen aufstellen.«
«Das FBI ist sehr tüchtig, Ben«, sagte der Präsident.»Es hat uns nicht um Hilfe gebeten.«
«Über das FBI möchte ich mich nicht äußern«, sagte Thurow.»Wir können hier zwei Wochen herumsitzen und trauern, oder wir können uns an die Arbeit machen und diese Bastarde finden.«
«Wieso sind Sie so sicher, dass Sie das schaffen können?«fragte Manning.
«Ich bin nicht sicher, ob ich es kann, aber ich meine, es ist einen Versuch wert. Unsere Kollegen wurden aus einem bestimmten Grund ermordet, und dieser Grund steht in direktem Zusammenhang mit einem Fall, über den bereits entschieden wurde oder der jetzt vor diesem Gericht anhängig ist. Wenn es Rache war, ist unsere Aufgabe praktisch unlösbar. Schließlich werden wir, aus dem einen oder anderen Grund, von jedermann gehasst. Aber wenn es nicht Rache oder Hass war, dann wollte vielleicht jemand für eine künftige Entscheidung ein anderes Gericht haben. Und das macht die Sache interessant. Wer würde Abe und Glenn wegen eines Votums umbringen, das sie in diesem Jahr, im nächsten Jahr oder in fünf Jahren vielleicht abgegeben hätten? Ich möchte, dass unsere Mitarbeiter sich jeden Fall vornehmen, der jetzt bei den elf Bezirksgerichten anhängig ist.«
Richter McDowell schüttelte den Kopf.»Wie stellen Sie sich das vor, Ben? Das sind mehr als fünftausend Fälle, von denen nur ein winziger Bruchteil hier landen wird. Das ist doch absurd.«
Manning war ebenso unbeeindruckt.»Ich habe einunddreißig Jahre mit Rosenberg zusammengearbeitet, und ich war oft nahe daran, selbst auf ihn zu schießen. Aber ich habe ihn geliebt wie einen Bruder. Seine liberalen Ideen wurden in den sechziger und siebziger Jahren akzeptiert, in den achtzigern waren sie überholt und jetzt, in den neunzigern, stoßen sie auf Ablehnung. Er wurde zum Symbol für alles, was mit diesem Land nicht stimmt. Ich glaube, er wurde von einer dieser rechten RadikalenGruppen ermordet, und wir können Fälle recherchieren, bis es in der Hölle schneit, ohne irgend etwas zu finden. Es ist Rache, Ben. Schlicht und einfach Rache.«
«Und Glenn?«fragte Thurow.
«Unser Freund hatte ganz offensichtlich ungewöhnliche Neigungen. Das muss sich herumgesprochen haben, und er war für eine solche Gruppe ein leichtes Opfer. Sie hassen die Homosexuellen, Ben.«
Thurow wanderte nach wie vor herum und ignorierte die anderen.»Sie hassen uns alle, und wenn Hass das Mordmotiv war, wird die Polizei sie erwischen. Vielleicht. Aber was ist, wenn sie ermordet wurden, weil jemand das Gericht manipulieren wollte? Was ist, wenn sich irgendeine Gruppe diesen Moment der inneren Unruhe und der Gewalttätigkeiten zunutze machte, um zwei von uns zu beseitigen und auf diese Weise eine Neubesetzung des Gerichts zu erzwingen? Ich halte das für durchaus möglich.«
Der Präsident räusperte sich.»Ich bin dafür, dass wir nichts unternehmen, bis sie begraben sind oder ihre Asche verstreut ist. Ich sage nicht nein, Ben, aber wir sollten ein paar Tage warten. Wir stehen noch unter Schock.«
Thurow entschuldigte sich und verließ den Raum. Seine
Leibwächter folgten ihm den Flur entlang.
Richter Manning stand auf seinen Stock gelehnt da und wendete sich an den Präsidenten.»Ich komme nicht nach Providence. Ich hasse das Fliegen, und ich hasse Beerdigungen. Mir steht über kurz oder lang die eigene bevor, und daran lasse ich mich nicht gern erinnern. Ich werde der Familie schriftlich mein Beileid aussprechen. Wenn Sie sie sehen, dann entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin ein sehr alter Mann. «Er verließ das Büro mit einem seiner Mitarbeiter.
«Ich finde, Richter Thurow hat recht«, sagte Jason Kline.»Wir müssen zumindest die anhängigen Fälle überprüfen, vor allem die, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie von den untergeordneten Gerichten an uns überwiesen werden. Es ist ein Schuss ins Blaue, aber es kann durchaus sein, dass wir auf irgend etwas stoßen.«
«Da stimme ich Ihnen zu«, sagte der Präsident.»Es ist nur ein wenig verfrüht, meinen Sie nicht auch?«
«Ja. Aber ich möchte trotzdem gleich anfangen.«
«Nein. Warten Sie bis Montag, dann weise ich Sie Thurow zu.«
Kline zuckte die Achseln und entschuldigte sich. Zwei seiner Kollegen folgten ihm in Rosenbergs Büro, wo sie im Dunkeln dasaßen und den Rest von seinem Brandy tranken.
In einer engen Arbeitsnische im fünften Stock der juristischen Bibliothek, zwischen Regalen mit dicken, selten gebrauchten Büchern, studierte Darby Shaw einen Ausdruck der vor dem Obersten Bundesgericht anhängigen Fälle. Sie hatte ihn schon zweimal gelesen, und obwohl viele von ihnen überaus brisant waren, hatte sie nichts gefunden, was sie interessierte. Dumond schlug hohe Wellen. Dann gab es einen Fall von Kinderpornographie aus New Jersey, einen Sodomiefall aus Kentucky, ein Dutzend Einsprüche gegen Todesurteile, ein