Die Tür zum inneren Büro war geschlossen. Im Raum befanden sich der Präsident, seine drei Mitarbeiter, der Chef der Polizei des Obersten Bundesgerichts, drei FBI-Agenten und K. O. Lewis, der stellvertretende Direktor des FBI. Die Stimmung war ernst, alle bemühten sich, den Lärm von der Straße unten zu ignorieren. Es war schwierig. Der Präsident und Lewis erörterten die jüngste Serie von Morddrohungen, und alle anderen hörten zu. Die Mitarbeiter machten sich Notizen.
In den letzten sechzig Tagen hatte das FBI mehr als zweihundert Drohungen registriert, ein neuer Rekord. Es gab das übliche Sortiment von» Sprengt das Gericht in die Luft«-Drohungen, aber viele waren gezielt und bezogen sich auf Namen, Fälle und Urteile.
Runyan unternahm keinen Versuch, seine Besorgnisse zu verheimlichen. Er las ein vertrauliches FBI-Resümee, in dem die Namen der Organisationen aufgeführt waren, die als Urheber der Drohungen in Frage kamen. Der Ku Klux Klan, die Arier, die Nazis, die Palästinenser, die schwarzen Separatisten, die Abtreibungsgegner, die Homosexuellenhasser. Sogar die IRA. Alle, wie es schien, ausgenommen die Rotarier und die Pfadfinder. Eine vom Iran unterstützte Gruppe im Mittleren Osten hatte mit Blutvergießen auf amerikanischem Boden als Vergeltung für den Tod von zwei Justizbeamten in Teheran gedroht. Es gab absolut keinen Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten irgend etwas mit den Morden zu tun hatten. Eine neue, kürzlich zu Ruhm gelangte inländische Terrororganisation, die sogenannte Underground Army, hatte in Texas einen Bundesrichter mit einer Autobombe umgebracht. Niemand war verhaftet worden, aber die UA behauptete, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Sie war auch die Hauptverdächtige bei einem Dutzend Bombenattentaten auf Büros der American Civil Liberties Union, aber man konnte ihr nichts nachweisen.
«Was ist mit diesen puertoricanischen Terroristen?«fragte Runyan, ohne aufzuschauen.
«Leichtgewichte. Die machen uns keine Sorgen«, erwiderte Lewis gelassen.»Sie drohen schon seit zwanzig Jahren.«
«Nun, vielleicht ist jetzt für sie die Zeit gekommen, etwas zu tun. Das Klima ist gerade richtig, meinen Sie nicht?«
«Die Puertoricaner können Sie vergessen, Chief «Runyan ließ sich gerne Chief nennen. Nicht Chief Justice, nicht Mr.
Chief Justice. Einfach Chief.»Sie drohen nur, weil alle anderen es auch tun.«
«Sehr komisch«, sagte der Chief, ohne zu lächeln.»Sehr komisch. Ich möchte nicht, dass irgendeine Gruppe außer acht gelassen wird. «Runyan warf das Resümee auf seinen Schreibtisch und rieb sich die Schläfen.»Reden wir über die Sicherheitsvorkehrungen. «Er schloss die Augen.
K. O. Lewis legte seine Kopie des Resümees gleichfalls auf den Schreibtisch.»Also, der Direktor ist der Ansicht, dass wir jedem Richter vier Agenten zuordnen sollten, zumindest während der nächsten neunzig Tage. Für die Fahrten zum Gericht und zurück werden Limousinen mit Eskorte eingesetzt. Die Polizei des Obersten Bundesgerichts unterstützt uns und bewacht dieses Gebäude.«
«Was ist mit Reisen?«
«Keine gute Idee, zumindest im Augenblick. Der Direktor findet, die Richter sollten bis Ende des Jahres hier in Washington bleiben.«
«Sind Sie verrückt? Ist er verrückt? Wenn ich meine Kollegen aufforderte, dieser Bitte nachzukommen, würden sie alle noch heute abend die Stadt verlassen und den ganzen nächsten Monat herumreisen. Das ist absurd. «Runyan warf seinen Mitarbeitern einen finsteren Blick zu; sie schüttelten entrüstet die Köpfe. Wirklich absurd.
Lewis war unbeeindruckt. Das war zu erwarten gewesen.»Wie Sie wünschen. Es war nur ein Vorschlag.«
«Ein törichter Vorschlag.«
«Der Direktor hat in dieser Hinsicht nicht mit Ihrer Kooperation gerechnet. Er erwartet jedoch, dass er im voraus über alle Reisepläne informiert wird, damit wir unsere Vorkehrungen treffen können.«
«Soll das heißen, dass Sie vorhaben, jeden Richter zu eskortieren, wenn er die Stadt verlässt?«
«Ja, Chief. Genau das haben wir vor.«
«Unmöglich. Diese Leute sind es nicht gewohnt, rund um die Uhr beaufsichtigt zu werden.«
«Ja, Sir. Und sie sind es auch nicht gewohnt, dass sich jemand an sie heranmacht. Wir versuchen nur, Sie und Ihre ehrenwerten Kollegen zu beschützen, Sir. Natürlich sagt uns niemand, dass wir irgend etwas tun müssen. Ich glaube, Sir, Sie selbst waren es, der uns gerufen hat. Wenn Sie es wünschen, können wir wieder gehen.«
Runyan rückte auf seinem Stuhl nach vorn und attackierte eine Büroklammer, zog sie auseinander und versuchte, den Draht vollkommen gerade zu biegen.»Und hier?«
Lewis seufzte und hätte beinahe gelächelt.»Das Gebäude macht uns keine Sorgen, Chief. Das lässt sich mühelos sichern. Hier rechnen wir nicht mit Problemen.«
«Wo dann?«
Lewis nickte zum Fenster hinüber. Der Lärm war wieder lauter geworden.»Irgendwo da draußen. Auf den Straßen wimmelt es von Idioten, Verrückten und Fanatikern.«
«Und alle hassen uns.«
«Offensichtlich. Wir machen uns große Sorgen um Richter Rosenberg, Chief. Er weigert sich nach wie vor, unsere Leute in sein Haus zu lassen; sie müssen die ganze Nacht auf der Straße verbringen. Er gestattet einem der Polizisten des Obersten Bundesgerichts, den er besonders schätzt — wie heißt er? Ferguson —, draußen an der Hintertür zu sitzen, aber nur von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Niemand darf hinein außer Richter Rosenberg und seinem Pfleger. Das Haus ist nicht sicher.«
Runyan stocherte mit der Büroklammer auf seiner Schreibunterlage herum und lächelte in sich hinein. Rosenbergs
Tod, wie immer er auch eintreten mochte, wäre eine Erleichterung. Nein, er wäre ein grandioses Ereignis. Der Chief würde Schwarz tragen und eine Nachrede halten müssen, aber hinter verschlossenen Türen würde er mit seinen Mitarbeitern kichern. Der Gedanke behagte Runyan.
«Was schlagen Sie vor?«fragte er.
«Können Sie mit ihm reden?«
«Ich habe es versucht. Ich habe ihm erklärt, dass er vermutlich der meistgehasste Mann in Amerika ist, dass Millionen von Menschen ihn tagtäglich verfluchen, dass die meisten Leute ihn am liebsten tot sähen, dass er viermal soviel Hassbriefe bekommt wie alle anderen Richter zusammen, und dass er für einen Mörder eine ideale und leichte Zielscheibe ist.«
Lewis wartete.»Und?«
«Er hat gesagt, ich könnte ihn am Arsch lecken. Dann ist er eingeschlafen.«
Die Mitarbeiter kicherten, wie es sich gehörte; erst dann begriffen auch die FBI-Agenten, dass Humor erlaubt war, und schlossen sich mit einem kurzen Auflachen an.
«Also was unternehmen wir?«fragte Lewis ungerührt.
«Sie beschützen ihn, so gut Sie können, halten es schriftlich fest und zerbrechen sich deswegen nicht den Kopf. Er fürchtet sich vor nichts, auch nicht vor dem Tod, und wenn er nicht nervös ist, warum sollten Sie es dann sein?«
«Der Direktor ist nervös, also bin ich auch nervös, Chief. Es ist ganz simpel. Wenn einem von Ihnen etwas zustößt, muss das FBI es ausbaden.«
Der Chief schaukelte auf seinem Stuhl. Der Lärm von draußen war entnervend. Diese Zusammenkunft hatte sich lange genug hingezogen.»Vergessen wir Rosenberg. Vielleicht stirbt er im Schlaf. Ich mache mir mehr Sorgen um Jensen.«
«Jensen ist ein Problem«, sagte Lewis und blätterte in seinen
Papieren.
«Ich weiß, dass er ein Problem ist«, sagte Runyan langsam.»Er ist eine Pest. Manchmal hält er sich für einen Liberalen und votiert in der Hälfte der Fälle wie Roserberg. Einen Monat später ist er ein weißer Suprematist und unterstützt die Rassentrennung in den Schulen. Dann entdeckt er seine Liebe zu den Indianern und möchte ihnen Montana schenken. Es ist, als hätte man es mit einem zurückgebliebenen Kind zu tun.«
«Er ist wegen Depressionen in Behandlung.«
«Ich weiß, ich weiß. Er erzählt mir davon. Ich bin seine Vaterfigur. Welches Medikament?«