«Er wollte mir nicht sagen, was es ist — hat mir erklärt, ich müsste abwarten und es dann in der Zeitung lesen.«
«Sagen Sie Sarge, dass ich ihn liebe.«
«Darüber wird er bestimmt ganz aus dem Häuschen sein.«
Der Streifenwagen fuhr davon, und Grantham eilte zu seinem Volvo, der immer noch nach verbranntem Gras stank. Er verriegelte die Tür, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und riss den Umschlag auf. Es war ganz eindeutig ein internes Memo aus dem Weißen Haus, und es ging um einen Killer namens
Khamel.
Er raste durch die Stadt. Aus Brightwood heraus, auf die Sechzehnte und südwärts in Richtung Stadtzentrum. Es war fast halb acht, und wenn er es in einer Stunde zusammenbrachte, würde es noch in die Stadt-Spätausgabe kommen, die größte von einem halben Dutzend Ausgaben, die ab halb elf von den Druckmaschinen ausgespieen wurden. Er dankte Gott für das kleine Yuppie-Autotelefon, das zu kaufen ihm so widerstrebt hatte. Er rief Smith Keen an, den für die Recherchen zuständigen Ressortchef, der sich noch in der Redaktion im fünften Stock aufhielt. Dann rief er einen Freund in der Auslandsabteilung an und bat ihn, alles über Khamel herauszusuchen.
Das Memo kam ihm verdächtig vor. Die Worte waren zu heikel, um zu Papier gebracht zu werden und dann im Büro herumzuliegen wie die neueste Anweisung über Kaffee oder Mineralwasser oder Urlaub. Irgend jemand, vermutlich Fletcher Coal, wollte die Welt wissen lassen, dass Khamel als Verdächtiger aufgetaucht war, ausgerechnet ein Araber mit engen Beziehungen zu Libyen, dem Irak und dem Iran, Ländern, von hitzigen Idioten regiert, die Amerika hassten. Irgend jemand im Weißen Narrenhaus wollte, dass die Story auf der Titelseite erschien.
Aber es war eine tolle Story, und sie gehörte auf die Titelseite. Um neun waren er und Smith Keen damit fertig. Sie fanden zwei alte Fotos, von denen allgemein angenommen wurde, dass sie Khamel zeigten, obwohl sie so wenig Ähnlichkeit miteinander hatten, dass sie von zwei verschiedenen Personen zu stammen schienen. Keen sagte, bringt beide. Die Akte über Khamel war dünn. Ein Haufen Gerüchte und Legenden, aber wenig Handfestes. Grantham erwähnte den Papst, den britischen Diplomaten, den deutschen Bankier und den Hinterhalt für die israelischen Soldaten. Und jetzt stand Khamel, einer vertraulichen Quelle aus dem Weißen Haus zufolge, einer überaus verlässlichen und glaubhaften Quelle, in dem Verdacht, die Richter Rosenberg und Jensen ermordet zu haben.
Vierundzwanzig Stunden nach ihrem Untertauchen war sie immer noch am Leben. Wenn es bis zum Morgen dabei blieb, konnte sie einen neuen Tag beginnen und von neuem darüber nachdenken, was sie tun und wohin sie gehen sollte. Aber jetzt war sie müde. Sie war in einem Zimmer im fünfzehnten Stock des Marriott, bei verriegelter Tür und eingeschaltetem Licht, und auf dem Bett lag eine große Sprühdose mit Tränengas. Ihr dichtes, dunkelrotes Haar steckte in einer Papiertüte im Schrank. Als sie sich das letzte Mal das Haar abgeschnitten hatte, war sie drei Jahre alt gewesen, und ihre Mutter hatte ihr den Hosenboden versohlt.
Es hatte sie zwei anstrengende Stunden mit einer stumpfen Schere gekostet, um es abzuschneiden und dennoch so etwas wie eine Frisur zustandezubringen. Sie würde es wer weiß wie lange unter einer Mütze oder einem Hut verstecken. Zwei weitere Stunden verbrachte sie damit, es schwarz zu färben. Sie hätte es bleichen können, aber das wäre zu offensichtlich gewesen. Sie ging davon aus, dass sie es mit Profis zu tun hatte, und aus irgendeinem unerklärlichen Grund war sie im Drugstore zu der Überzeugung gelangt, dass sie vielleicht damit rechneten, dass sie genau das tat und zur Blondine wurde. Und wenn schon. Das Zeug wurde in Flaschen verkauft, und wenn sie morgen früh aufwachte und unmöglich aussah, konnte sie es immer noch blond färben. Die Chamäleon-Strategie. Jeden Tag die Farbe ändern und sie wahnsinnig machen. Clairol bot mindestens fünfundachtzig Töne an.
Sie war todmüde, fürchtete sich aber vorm Schlafen. Sie hatte im Laufe des Tages ihren Freund vom Sheraton nicht wiedergesehen, aber je mehr sie umherstreifte, desto mehr Gesichter kamen ihr bekannt vor. Sie wusste, er war irgendwo da draußen. Und er hatte Freunde. Wenn sie Rosenberg und Jensen ermorden und Thomas Callahan in die Luft sprengen konnten, würden sie bei ihr leichtes Spiel haben.
Sie konnte es nicht riskieren, in die Nähe ihres Wagens zu kommen, und sie wollte keinen mieten. Mietfirmen führten Buch. Und sie lagen vermutlich auf der Lauer. Sie konnte fliegen, aber sie überwachten die Flughäfen. Oder einen Bus nehmen; aber sie hatte noch nie eine Fahrkarte gekauft oder das Innere eines Greyhound gesehen.
Und nachdem sie gemerkt hatten, dass sie verschwunden war, würden sie damit rechnen, dass sie sich aus dem Staube machte. Sie war nur ein Amateur, eine kleine Studentin mit gebrochenem Herzen, die hatte mit ansehen müssen, wie ihr
Freund in Stücke zerrissen wurde. Sie würde kopflos irgendwohin flüchten, die Stadt verlassen, und dann würden sie sie erwischen.
Im Augenblick fühlte sie sich in der Stadt am besten aufgehoben. Hier gab es eine Million Hotelzimmer, fast ebenso viele Gassen und Kneipen und kleine Lokale, und außerdem herrschte auf Bourbon, Chartres, Dauphine und Royal ständig ein reger Betrieb. Sie kannte sie gut, besonders das French Quarter, wo man alles zu Fuß erreichen konnte. Sie würde ein paar Tage lang von einem Hotel ins andere ziehen, bis wann? Sie wusste nicht, bis wann. Sie wusste nicht, warum. Unter den gegebenen Umständen kam ihr das Herumziehen einfach vernünftig vor. Sie würde sich vormittags von den Straßen fernhalten und versuchen zu schlafen. Sie würde Kleidung, Kopfbedeckungen und Sonnenbrillen wechseln. Sie würde anfangen zu rauchen und eine Zigarette im Gesicht haben. Sie würde herumziehen, bis sie das Herumziehen satt hatte, und dann würde sie die Stadt vielleicht verlassen. Es war völlig in Ordnung, Angst zu haben. Sie durfte nicht den Kopf verlieren. Sie würde überleben.
Sie dachte daran, sich an die Polizei zu wenden, aber jetzt noch nicht. Sie schrieben Namen auf und führten Buch, und sie konnten gefährlich sein. Sie dachte daran, Thomas’ Bruder in Mobile anzurufen, aber es gab nicht das mindeste, womit der arme Mann ihr in diesem Moment hätte helfen können. Sie dachte daran, den Dekan anzurufen, aber wie sollte sie das Dossier erklären, Gavin Verheek, das FBI, die Autobombe, Rosenberg und Jensen und sie selber auf der Flucht, und erreichen, dass es glaubhaft klang? Den Dekan konnte sie vergessen. Sie mochte ihn ohnehin nicht. Sie dachte daran, ein paar Kommilitonen anzurufen, aber Leute reden und Leute hören mit, und sie konnten dort draußen sein und mithören, wie die Leute über Callahan redeten. Sie wollte mit Alice Stark reden, ihrer besten Freundin. Alice machte sich Sorgen, und
Alice würde zur Polizei gehen und melden, dass ihre Freundin Darby Shaw verschwunden war. Sie würde Alice morgen anrufen.
Sie wählte die Nummer des Zimmerservice und bestellte einen mexikanischen Salat und eine Flasche Rotwein. Sie würde den ganzen Wein trinken und dann mit dem Tränengas auf einem Stuhl sitzen und die Tür im Auge behalten, bis sie einschlief.
ACHTZEHN
Gminskis Limousine machte auf der Canal Street eine plötzliche Kehrtwendung, als gehörte die Straße ihr allein, und hielt dann vor dem Sheraton an. Beide Hintertüren flogen auf. Gminski war zuerst draußen, rasch gefolgt von drei Gehilfen, die mit Reisetaschen und Aktenkoffern hinter ihm hereilten.
Es war kurz vor zwei Uhr morgens, und der Direktor hatte es offensichtlich sehr eilig. Er blieb nicht an der Rezeption stehen, sondern steuerte direkt auf die Fahrstühle zu. Die Gehilfen rannten hinter ihm her und hielten ihm die Fahrstuhltür auf, und niemand sprach, als sie sechs Stockwerke hochfuhren.
In einem Eckzimmer warteten drei seiner Agenten. Einer von ihnen öffnete die Tür, und Gminski stürmte ohne ein Wort der Begrüßung hindurch. Die Gehilfen warfen das Gepäck auf eines der Betten. Der Direktor entledigte sich seines Jacketts und warf es auf einen Stuhl.