Aber bei Thomas funktionierte es nicht. Sie konnte nicht schreien und mit Gegenständen werfen, wie sie es gern getan hätte. Rupert und der dünne Mann und die anderen erlaubten ihr kein gesundes Trauern.
Nach ein paar Minuten mit Thomas dachte sie als nächstes an sie. Wo würden sie heute sein? Wohin konnte sie gehen, ohne gesehen zu werden? Sollte sie sich nach zwei Nächten in diesem Zimmer eine andere Unterkunft suchen? Ja, das würde sie tun. Nach Einbruch der Dunkelheit. Sie würde anrufen und in einer anderen winzigen Pension ein Zimmer buchen. Wo wohnten sie? Patrouillierten sie auf den Straßen, in der Hoffnung, einfach irgendwo auf sie zu stoßen? Wussten sie, wo sie sich in diesem Augenblick aufhielt? Nein. Dann wäre sie schon tot. Wussten sie, dass sie jetzt eine Blondine war?
Das Haar brachte sie aus dem Bett. Sie trat vor den Spiegel über dem Waschbecken und betrachtete sich. Es war jetzt noch kürzer und sehr weiß. Gar nicht so schlecht. Sie hatte gestern abend drei Stunden lang daran gearbeitet. Wenn sie zwei weitere Tage am Leben blieb, würde sie noch ein bisschen mehr abschneiden und zu Schwarz zurückkehren. Wenn sie noch eine weitere Woche lebte, würde sie wahrscheinlich kahl sein.
Ihr Magen knurrte, und eine Sekunde lang dachte sie an Essen. Sie hatte in der letzten Zeit kaum etwas zu sich genommen, und das musste sich ändern. Es war fast zehn Uhr. In dieser Pension gab es sonntags kein Frühstück. Sie musste sich hinauswagen und etwas essen und sich die Sonntagsausgabe der Post besorgen und es einfach darauf ankommen lassen, ob sie sie jetzt, da ihr Haar blond und ganz kurz war, erwischen würden.
Sie duschte rasch, und das Frisieren dauerte weniger als eine Minute. Kein Makeup. Sie zog eine neue Drillichhose an und eine neue Bomberjacke und war zur Schlacht bereit. Die Augen verbarg sie hinter einer Fliegersonnenbrille.
Obwohl sie ein paar Mal irgendwo hineingegangen war, hatte sie seit vier Tagen kein Gebäude durch die Vordertür verlassen. Sie schlich durch die dunkle Küche, schloss die Hintertür auf und trat in die Gasse hinter der kleinen Pension. Es war so kühl, dass sie die Bomberjacke tragen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Albern, dachte sie; im French Quarter würde sie selbst dann kein Aufsehen erregen, wenn sie das Fell und den Kopf eines Eisbären trug. Sie ging flott durch die Gasse mit den Händen tief in den Taschen der Drillichhose, während ihre Augen hinter der Sonnenbrille ständig in alle Richtungen Ausschau hielten.
Er sah sie, als sie in der Burgundy Street auf den Gehsteig trat. Das Haar unter der Mütze war anders, aber sie war immer noch einssiebzig groß, und daran konnte sie nichts ändern. Die Beine waren immer noch lang, und sie ging auf eine bestimmte Weise, und nach vier Tagen konnte er sie aus jeder Menge herauspicken, wie immer ihr Gesicht und ihr Haar auch aussehen mochten. Die Cowboystiefel — Schlangenleder mit spitzen Kappen — traten auf den Gehsteig und machten sich an die Verfolgung.
Sie war tüchtig, bog an jeder Ecke in eine andere Straße ein, ging flott, aber nicht zu schnell. Er vermutete, dass sie zum Jackson Square unterwegs war, wo sonntags immer viel Betrieb herrschte. Dort konnte sie in der Menge untertauchen, mit den Touristen und den Einheimischen umher schlendern, vielleicht einen Bissen essen, die Sonne genießen, eine Zeitung kaufen.
Darby zündete sich eine Zigarette an und paffte im Gehen. Sie inhalierte nicht. Das hatte sie vor drei Tagen versucht, und da war ihr schwindlig geworden. Was für eine schlechte Angewohnheit. Was für eine Ironie würde es sein, wenn sie das alles überlebte, nur um dann an Lungenkrebs zu sterben. Bitte, lass mich an Krebs sterben.
Er saß an einem Tisch in einem belebten Straßencafe an der Ecke von St. Peter und Chartres, und er war keine drei Meter entfernt, als sie ihn sah. Den Bruchteil einer Sekunde später sah er sie, und wahrscheinlich hätte sie es geschafft, wenn sie nicht einen Schritt lang gezögert und heftig geschluckt hätte, als sie ihn sah. Er sah sie, und wahrscheinlich wäre er nur argwöhnisch gewesen, aber das leichte Zögern und der merkwürdige Blick verrieten sie. Sie ging weiter, aber jetzt schneller.
Es war Stummel. Er war auf den Beinen und bahnte sich seinen Weg zwischen den Tischen hindurch, wo sie ihn aus den Augen verlor. Zu ebener Erde war er alles andere als rundlich. Er wirkte muskulös und behende. Auf Chartres konnte sie ihn eine Sekunde lang abhängen, als sie zwischen den Bogen der St.-Louis-Kathedrale in Deckung ging. Die Kirche war offen, und sie dachte einen Moment daran, hineinzugehen, als wäre es eine Freistatt, in der er sie nicht töten würde. Aber er würde sie drinnen töten oder auf der Straße oder in einer Menschenmenge, wo immer er ihrer habhaft werden konnte. Er war hinter ihr her, und Darby wollte wissen, wie rasch er sich näherte. Ging er nur mit schnellen Schritten und versuchte, den Gelassenen zu spielen? Tat er so, als ob er joggte? Oder kam er angerannt, bereit, sich auf sie zu stürzen, sobald er ihrer ansichtig wurde?
Sie blieb in Bewegung.
Sie bog nach links in die St. Ann ab, überquerte die Straße und war fast auf der Royal, als sie einen schnellen Blick hinter sich warf. Er kam. Er war auf der anderen Straßenseite, aber immer noch hinter ihr her.
Der nervöse Blick über die Schulter verriet sie, und jetzt joggte er.
Du musst zusehen, dass du zur Bourbon Street kommst, dachte sie. Bis zum Anpfiff waren es noch vier Stunden, und Fans der Saints waren in Massen unterwegs, um schon vor dem Spiel zu feiern, weil es hinterher nicht viel zu feiern geben würde. Sie bog in die Royal ein und rannte ein paar Schritte, dann verlangsamte sie zu einem schnellen Gehen. Er bog gleichfalls in die Royal ein, und er joggte in einer Haltung, die es ihm erlaubte, jeden Moment loszurennen. Darby bewegte sich in die Mitte der Straße, wo eine Gruppe von Football-Fans herumstand und die Zeit totschlug. Sie bog nach links auf die Dumaine ab und begann zu rennen. Bourbon Street lag vor ihr, und dort wimmelte es von Leuten.
Jetzt konnte sie ihn hören. Sie brauchte sich nicht mehr umzusehen. Er war hinter ihr, rannte und holte auf. Als sie in die Bourbon einbog, war Mr. Stummel fünfzehn Meter hinter ihr, und das Rennen war vorüber. Sie sah ihre Engel, als sie lärmend ein Lokal verließen. Drei massige, übergewichtige junge Männer, angetan mit allen möglichen Bestandteilen der schwarzgoldenen Saints-Ausrüstung, traten genau in dem Augenblick auf die Straße, als Darby auf sie zurannte.
«Hilfe!«schrie sie hektisch und deutete auf Stummel.»Helft mir! Dieser Mann ist hinter mir her! Er versucht, mich zu vergewaltigen!«
Auf den Straßen von New Orleans ist Sex durchaus nichts Ungewöhnliches, aber sie wollten verdammt sein, wenn sie es zuließen, dass diese Frau missbraucht wurde.
«Bitte helft mir!«rief sie noch einmal. Plötzlich herrschte Stille auf der Straße. Alle erstarrten, auch Stummel, der ein oder zwei Schritte verhielt und dann vorwärts stürmte. Die drei Saints stellten sich ihm mit verschränkten Armen und funkelnden Augen in den Weg. Es dauerte nur Sekunden. Stummel benutzte beide Hände gleichzeitig: eine Rechte gegen die Kehle des ersten und ein gemeiner Schlag auf den Mund des zweiten. Sie schrieen auf und stürzten zu Boden. Aber Nummer drei dachte nicht ans Fortlaufen. Seine beiden Kumpel waren verletzt, und das machte ihn wütend. Er wäre für Stummel eine Kleinigkeit gewesen, aber Nummer eins fiel auf Stummels rechten Fuß, und das lenkte ihn ab. Als er seinen Fuß wegzog, versetzte ihm Mr. Benjamin Chop aus Thibodaux, Louisiana, Nummer drei, einen Tritt zwischen die Beine, und Stummel gehörte der Geschichte an. Während Darby wieder in der Menge untertauchte, hörte sie, wie er vor Schmerzen heulte.