Schweigen. Callahan schaute zu Boden und ließ die Stille einsinken. Alle Augen waren gesenkt, alle Kugelschreiber und Bleistifte erstarrt. Von der obersten Reihe stieg Rauch auf.
Endlich hob auf dem vierten Platz in der dritten Reihe Darby Shaw langsam die Hand, und die Klasse stieß einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte sie wieder einmal gerettet. Irgendwie erwartete man das von ihr. Sie war die Nummer Zwei in ihrer Klasse, ganz nahe der Nummer Eins, und sie konnte die Fakten und Ansichten und Präzedenzfälle und Minderheitsvoten und Mehrheitsentscheidungen von praktisch jedem Fall zitieren, den Callahan ihnen an den Kopf geworfen hatte. Ihr entging nichts. Die perfekte kleine Cheerleaderin besaß einen Magna cum laude-Grad in Biologie und hatte sich vorgenommen, ein Magna cum laude in Rechtswissenschaft zu erreichen und sich danach ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass sie Chemiefirmen wegen Umweltzerstörung verklagte.
Callahan musterte sie mit gespielter Frustration. Sie hatte drei Stunden zuvor seine Wohnung verlassen, nach einer langen Nacht mit Wein und Rechtswissenschaft. Aber von Nash war zwischen ihnen nicht die Rede gewesen.
«Sehr schön, Ms. Shaw. Weshalb ist Rosenberg empört?«
«Er meint, dass das Gesetz von New Jersey gegen den Zweiten Verfassungszusatz verstößt. «Sie sah den Professor nicht an.
«Das ist gut. Und damit auch der Rest der Klasse informiert ist — was besagt dieses Gesetz?«
«Es verbietet halbautomatische Schusswaffen, unter anderem.«
«Wunderbar. Und nur des Spaßes halber — was besaß Mr. Nash zum Zeitpunkt seiner Verhaftung?«
«Eine AK.-47.«
«Und was passierte mit ihm?«
«Er wurde zu drei Jahren verurteilt und ging in die Berufung. «Sie wusste über die Details Bescheid.
«Welchen Beruf hatte Mr. Nash?«
«Das wird in dem Urteil nicht genau gesagt, aber es ist von einer zusätzlichen Anklage wegen Rauschgifthandels die Rede. Zur Zeit seiner Verhaftung hatte er keinerlei Vorstrafen.«
«Er war also ein Drogenhändler mit einer AK-47- Aber in Rosenberg hatte er einen Freund, nicht wahr?«
«Natürlich. «Jetzt beobachtete sie ihn. Die Spannung hatte sich gelöst. Die meisten Augen folgten ihm, während er langsam herumwanderte, den Blick durch den Saal schweifen ließ, ein anderes Opfer auswählte. Es kam oft vor, dass Darby in diesen Seminaren den Ton angab, und Callahan ging es um breitere
Beteiligung.
«Weshalb, meinen Sie, steht Rosenberg auf seiner Seite?«fragte er die Klasse.
«Er liebt Drogenhändler. «Es war Sallinger, verwundet, aber noch immer kampfbereit. Callahan legte großen Wert auf Diskussionen. Er lächelte sein Opfer an, wie um es wieder beim Blutvergießen willkommen zu heißen.
«Finden Sie, Mr. Sallinger?«
«Klar. Drogenhändler, Kinderbetatzer, Revolverhelden, Terroristen. Solche Leute bewundert Rosenberg. Sie sind seine schwachen und misshandelten Kinder, also muss er sie beschützen. «Sallinger versuchte, rechtschaffen entrüstet zu sein.
«Und was sollte, Ihrer fachmännischen Ansicht zufolge, mit solchen Leuten geschehen?«
«Simpel. Sie sollten eine faire Verhandlung mit einem guten Anwalt bekommen, dann ein faires, schnelles Berufungsverfahren. Und wenn sie schuldig sind, sollten sie bestraft werden. «Sallinger war gefährlich nahe daran, sich anzuhören wie ein rechtsradikaler Verfechter von Gesetz und Ordnung, für die Jurastudenten von Tulane eine Todsünde.
Callahan verschränkte die Arme.»Bitte, fahren Sie fort.«
Sallinger roch eine Falle, stapfte aber weiter. Er hatte nichts zu verlieren.»Ich meine, wir haben einen Fall nach dem anderen gelesen, wo Rosenberg versucht hat, die Verfassung umzuschreiben und ein neues Schlupfloch für die Nichtzulassung von Beweismaterial zu schaffen, damit ein offenkundig schuldiger Angeklagter freigesprochen wird. Es kann einem beinahe schlecht dabei werden. Er hält alle Gefängnisse für grausame und unnatürliche Orte, und deshalb sollten gemäß dem Achten Verfassungszusatz alle Gefangenen freigelassen werden. Glücklicherweise ist er jetzt in der Minderheit, einer schrumpfenden Minderheit.«»Ihnen gefällt die Einstellung des Gerichts, ist es nicht so, Mr. Sallinger?«
«So ist es.«
«Sind Sie einer von diesen normalen, tatkräftigen, patriotischen Durchschnittsamerikanern, die sich wünschen, dass der alte Bastard einschläft und nicht wieder aufwacht?«
Hier und dort wurde gekichert. Jetzt war es sicherer, wenn man lachte. Sallinger war zu klug, um wahrheitsgemäß zu antworten.»Das würde ich niemandem wünschen«, sagte er, fast verlegen.
Callahan wanderte wieder herum.»Vielen Dank, Mr. Sallinger. Sie haben uns, wie gewöhnlich, die Ansicht des Laien über das Recht geliefert.«
Jetzt war das Lachen wesentlich lauter. Sallingers Wangen röteten sich, und er sank auf seinem Sitz zusammen.
Callahan lächelte nicht.»So, und nun möchte ich das intellektuelle Niveau ein bisschen anheben. Also, Ms. Shaw, weshalb ist Rosenberg für Nash eingetreten?«
«Der Zweite Verfassungszusatz garantiert das Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen. Für Richter Rosenberg ist dieses Recht absolut und wörtlich zu nehmen. Nichts darf verboten werden. Wenn Nash eine AK-47 besitzen möchte oder eine Handgranate oder eine Bazooka, dann kann der Staat New Jersey kein Gesetz erlassen, das ihm das verbietet.«
«Sind Sie auch dieser Ansicht?«
«Nein, und damit stehe ich nicht allein. Es war eine Entscheidung von acht gegen einen. Niemand hat sich ihm angeschlossen.«
«Welcher Gedanke lag dem Urteil der anderen acht zugrunde?«
«Das liegt auf der Hand. Die Staaten haben zwingende
Gründe, den Verkauf und den Besitz bestimmter Waffentypen zu verbieten. Das Interesse des Staates New Jersey ist gewichtiger als die im Zweiten Verfassungszusatz garantierten Rechte von Mr. Nash. Die Gesellschaft kann nicht zulassen, dass Einzelpersonen hochtechnisierte Waffen besitzen.«
Callahan musterte sie eingehend. Attraktive Jurastudentinnen waren selten in Tulane, aber wenn er eine entdeckt hatte, handelte er rasch. Im Verlauf der letzten acht Jahre war er ziemlich erfolgreich gewesen. Und in den meisten Fällen hatte er leichtes Spiel gehabt. Die Frauen kamen emanzipiert und willig an die Universität. Darby war anders gewesen. Zum ersten Mal war sie ihm im zweiten Semester ihres ersten Jahres in der Bibliothek aufgefallen, und es hatte einen Monat gedauert, bis sie mit ihm essen gegangen war.
«Wer hat die Mehrheitsentscheidung geschrieben?«
«Runyan.«
«Und Sie stimmen mit ihm überein?«
«Ja. Der Fall liegt im Grunde sehr einfach.«
«Was also ist in Rosenberg vorgegangen?«
«Ich glaube, er hasst die anderen Richter.«
«Und widerspricht deshalb nur, um ihnen eins auszuwischen?«
«Jedenfalls oft. Es wird immer schwieriger, seine Urteile zu verteidigen. Nehmen wir Nash. Für einen Liberalen wie Rosenberg ist die Frage der Kontrolle des Waffenbesitzes leicht zu beantworten. Er hätte die Mehrheitsentscheidung schreiben sollen, und vor zehn Jahren hätte er es auch getan. Bei Fordice gegen Oregon, einem Fall aus dem Jahr 1977, hat er den Zweiten Verfassungszusatz wesentlich enger ausgelegt. Seine Inkonsequenz ist beinahe peinlich.«
Callahan hatte Fordice vergessen.»Wollen Sie damit sagen, dass Rosenberg senil ist?«
Wie ein schwer angeschlagener Boxer ging Sallinger in die letzte Runde.»Er ist total übergeschnappt, und das wissen Sie. Sie können seine Urteile nicht verteidigen.«
«Nicht immer, Mr. Sallinger, aber zumindest ist er noch da.«
«Sein Körper ist da, aber sein Gehirn ist tot.«
«Er atmet noch, Mr. Sallinger.«
«Ja, mit Hilfe einer Maschine. Sie müssen ihm Sauerstoff in die Nase pumpen.«
«Aber es hilft, Mr. Sallinger. Er ist der letzte unter den großen Richterpersönlichkeiten, und er atmet noch.«
«Sie sollten anrufen und sich vergewissern«, sagte Sallinger, dann hielt er den Mund. Er hatte genug gesagt. Nein, er hatte zuviel gesagt. Als der Professor ihn anfunkelte, senkte er den Kopf, richtete die Augen auf seinen Block und fing an, sich zu fragen, warum er all das gesagt hatte.
Callahan durchbohrte ihn mit Blicken, dann begann er, wieder herumzuwandern. Es war in der Tat ein schlimmer Kater.