Es waren immer mindestens zwei Krieger notwendig, um einen der Gefesselten von den Leiterwagen zu holen. Wie rasend traten sie um sich, versuchten die Männer und Frauen zu beißen, die Hand an sie legen wollten, und spuckten sie an.
Eine Kriegerin mit kurzgeschorenem, schwarzen Haar rammte einem Knaben den Schaft ihrer Hellebarde in den Unterleib. Sich zusammenkrümmend schrie der Junge mit dunkler Stimme.
»Du Buhle des Laraan. Möge dein Meister dich nackt an das Tor der Stadt nageln und glühende Pfähle durch deinen Leib treiben, bevor dir seine Diener mit eisernen Zangen das Fleisch von den Knochen reißen!«
Erschrocken wich die Kriegerin zurück und schlug ein Schutzzeichen des Praios.
»An die Pfähle mit ihnen!« kreischte die Menge.
Ob wohl der Hunger daran schuld war? Die Bürger auf dem Platz schienen genauso ihre menschlichen Züge verloren zu haben wie die Gestalten an den Pfählen.
Sogar vier Kinder waren unter den Delinquenten. Marcian biß sich auf die Lippen. Er durfte keine Gnade gewähren! Hatten die Kranken erst einmal das letzte Stadium der Duglumspest erreicht, so würden ihre Körper zu Asche zerfallen, und für jeden, der starb, würde ein Dämon geboren. Ihre unsterblichen Seelen aber waren für immer verloren. So stand es im Praiosspiegel, dem heiligen Buch der Inquisition.
Er mußte nun seines Amtes walten, ob er wollte oder nicht. So hatte er es dem Boten des Lichtes, dem Obersten aller Praiosgeweihten geschworen, als ihm das Amt des Inquisitors übertragen worden war.
Er mußte diese Unglücklichen erlösen! Allein das Feuer konnte ihre Körper noch läutern. Indem sie unter Qualen auf dem Scheiterhaufen starben, würden die dämonischen Kräfte ausgetrieben, und ihren Seelen würde sich der Weg zur Erlösung öffnen. Das war die letzte Hoffnung, die ihnen noch blieb.
Marcian durfte jetzt nicht zögern! Er würde sie nicht töten. Er würde ihnen Erleichterung in ihren Qualen verschaffen.
Mittlerweile war auch der letzte angebunden worden, und die Waffenknechte stiegen von dem hohen Scheiterhaufen. Dann bildeten sie eine Kette, um die Bürger auf die südliche Hälfte des Platzes zurückzudrängen. Ihr Weibel trat neben Marcian und reichte ihm eine brennende Fackel.
»O Herr des Lichtes und der Gerechtigkeit, erhöre mich!« Die Stimme des Inquisitors hallte über den Platz. Es war ruhig geworden.
»Praios, richte deinen Blick auf uns und jene Unglücklichen, die von dämonischen Klauen ergriffen wurden und die in die Finsternis jenseits Alverans gezerrt werden sollten. Praios erlöse sie, und nimm alles Übel von ihnen durch die reinigende Kraft deines Feuers.«
Mit diesen Worten stieß der Inquisitor die Fackel ins trockene Reisig. Gierig leckten die Flammen nach den Brettern und Bohlen, aus denen der gewaltige Scheiterhaufen geschichtet war. Einige der Gefesselten schrien auf, andere starrten stumm vor sich hin, als sei alle Kraft, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, von ihnen gewichen.
Die Bürger gröhlten. Dann begannen einige den Choral ›Praios, mein Licht, meine Hoffnung‹ anzustimmen. Immer mehr fielen in den Gesang ein, beugten ihr Knie und schauten mit entblößtem Haupt zum dunklen, wolkenverhangenen Himmel empor.
Auch Marcian murmelte geistesabwesend die Worte des Chorals, den er in den Tagen seiner Ausbildung wohl Hunderte von Malen gesungen hatte. Doch seine Gedanken hingen nicht an jenen längst vergangenen Jahren, in denen er von gestrengen Geweihten gemeinsam mit anderen jungen Männern in den Regeln des Glaubens unterwiesen worden war.
Er dachte an einen längst vergangenen Wintertag. Wieder sah er die kleine Gruppe von Männern mit wehenden Umhängen vor sich. Den Gerichtsplatz der Stadt des Lichtes, mit seinen unheimlichen, dunklen Flecken in dem weißen Sand und den Scheiterhaufen, auf dem seine Geliebte stand. Als sie in den Flammen gestorben war, hatte er sich geschworen, nie wieder in seinem Leben die Fackel in einen Scheiterhaufen zu stoßen ... und jetzt stand er hier.
Immer lauter erscholl der Gesang der Bürger.
War es gerecht, wenn Kinder starben? Marcian blickte auf den Scheiterhaufen. Das Büßerkleid eines Mädchens hatte Feuer gefangen. Schreiend wand sie sich in ihren Fesseln. Die schwarze Dämonenhaut hatte ihr Gesicht entstellt, und doch konnte er in dem Kind jetzt keine Verkörperung des Bösen mehr sehen.
Nicht die fluchbeladene Rede eines Versuchers klang über ihre Lippen. Es waren die Schreie eines kleinen Mädchens in Todesangst. Und er hatte ihr den Tod gebracht!
Hatte Gordonius am Ende vielleicht doch recht gehabt? Hätte es noch einen anderen Weg gegeben? Wäre es möglich gewesen, die Todkranken vor dem Scheiterhaufen zu retten?
Eine hohe Feuerwand versperrte nun den Blick auf die Gemarterten, doch immer noch waren ihre Schreie zu hören.
Die Bürger hatten aufgehört zu singen, und auch die Stimmen hinter dem Feuer erstarben zu leisem Wimmern, bis schließlich nichts mehr zu hören war, außer dem Knistern der Flammen.
Der würgende Gestank nach verbranntem Menschenfleisch zog mit dem Rauch über den Platz. Die Menge löste sich langsam auf, und es wurde leer auf dem Platz der Sonne. Allein Marcian stand noch immer dicht vor dem Feuer. Lauschte dem unheimlichen Gesang der Flammen, die ihm eine Botschaft aus lange vergangener Zeit zuzuflüstern schienen. Begann er wahnsinnig zu werden, oder hörte er wirklich die Worte »Ich weine um dich«?
Ein Arm legte sich sanft um seine Schultern. »Laß uns von diesem schrecklichen Ort fortgehen«, flüsterte Cindira.
Seit Tagen lebte Himgi wieder in einer Welt, die so weit hinter ihm gelegen hatte, daß seine Erinnerungen an diese Vergangenheit nicht einmal mehr wehmütig gewesen waren. Der Zwergenhauptmann stand in dem Tunnel, der geradewegs auf das Herz der zerstörten Kultanlage der Orks weisen mußte. Trockener Staub füllte seinen Mund; im Schein unstet flakkernder Fackeln arbeiteten fast ein Dutzend Zwerge unter seinem Kommando.
Sie räumten das Geröll aus dem verschütteten Tunnel und schafften es in großen Körben in den Turm. Nachts wurden Erde, Gesteinsbrocken und morsche Knochen auf Karren geladen, die zum Fluß fuhren, wo man den Abraum heimlich in den Fluten versenkte, damit die Bürger nicht bemerkten, was unter der Fuchshöhle vor sich ging.
Im Moment beaufsichtigte er zwei Zwergenkrieger, die fluchend einen neuen Stützpfeiler aufrichteten, als vom vorderen Ende des Tunnels einige streitende Stimmen erklangen und jemand rief:
»Himgi! Himgi, schnell kommt. Hier ist etwas Merkwürdiges ...«
Himgi warf seine Spitzhacke beiseite und humpelte vorwärts. Die Schmerzen in seinem Bein waren in den letzten Wochen immer stärker geworden. Es war die Kälte, die der alten Wunde zu schaffen machte und ihn manchmal morgens glauben ließ, daß er nicht mehr die Kraft finden würde, sich von seinem Lager zu erheben.
Endlich erreichte er den Ort des Streites. Die drei Zwerge, die vorne im Stollen arbeiteten, hatten ihre Werkzeuge beiseite gelegt. Im Schein einer Blendlaterne war zwischen dem Geröll, das den Gang an seinem Ende ausfüllte, ein schwarzer Felsen zu erkennen.
»Seht, Hauptmann, dieser Stein ist nicht natürlichen Ursprungs.«
Grotho, ein uralter Zwerg mit einer breiten Narbe über der linken Augenbraue, hatte gesprochen. »Ich habe drei Jahrzehnte in den Gruben bei Angbar gearbeitet, habe den tiefen Süden gesehen und in den Uhdenberger Minen nach Gold geschürft, doch ein solcher Fels ist mir noch nie untergekommen. Kein Stahl vermag ihn auch nur zu ritzen.«
»Dein Arm ist doch schwächer als der einer alten Goblinvettel«, höhnte ein jüngerer Angroschim.
»Schweig!« gebot Himgi barsch. »Es ziemt sich nicht, das Alter zu lästern.«
Dann beugte sich der Hauptmann vor, um über die glatte Oberfläche des Steins zu streichen. Nicht die feinste Schramme war zu entdecken.