»Räumt das Geröll hier weg«, befahl er schließlich, bevor der Streit wieder aufflammen konnte. »Wir wollen sehen, ob es einen Weg gibt, um diesen Stein herumzugraben.«
Nur vier Fackeln erhellten den kleinen Saal, in dem Marcian sich abends mit seinen Offizieren beriet. Selbst die dicken Mauern des Palas durchdrang der monotone Rhythmus der Kriegspauken, die in den Lagern der Orks geschlagen wurden. In den letzten Tagen waren etliche Kontingente aus dem Süden zur Armee des Sharraz Garthai gestoßen, und um sein prächtiges Feldherrenzelt stand ein Wald blutroter Kriegsbanner.
Allen Anwesenden war klar, daß für den nächsten Morgen ein Angriff der Orks bevorstand. Und dann auch noch der desillusionierende Bericht des Zwergenhauptmanns! Es schien, als hätten die Himmlischen den Untergang der Stadt beschlossen.
»Ich weiß nicht mehr, was noch zu tun ist.« Das waren die letzten Worte Himgis gewesen, und ohnmächtiges Schweigen lag über dem kalten Saal. Der Zwerg hatte berichtet, daß eine große, schwarze Steinplatte bei den Räumarbeiten freigelegt worden war.
Unverrückbar stand sie aufrecht im Gang. Weder Stahl noch Magie vermochten ihr etwas anzuhaben, und selbst die Wände um sie herum, die augenscheinlich nur aus einfachem Erdreich bestanden, hatten sich als undurchdringlich erwiesen.
Die Grabungen hatten allerdings noch etwas anderes ans Licht gebracht. Unmittelbar vor der Steinplatte, die als einzigen Schmuck eine stilisierte Schlange trug, die ein S zu bilden schien, mündete ein zweiter Gang in den Tunnel.
Himgi war der Überzeugung, daß es sich dabei um »den gewundenen Weg der Krieger und Häuptlinge« handelte, von dem die Inschriften in Xorlosch berichteten. Seinen Anfang hatten sie ja bereits bei der Öffnung des vermauerten Ganges gefunden. Dieser Weg war zwar verschüttet, doch legte man sein Ohr an das Geröll, so konnte man von Ferne das unregelmäßige Geräusch von Grabungsarbeiten vernehmen. Die Orks waren ihnen nahe, und nach Himgis Meinung würde es vermutlich nur noch wenige Stunden dauern, bis sie zu dem Tunnel vor der Steinplatte durchstoßen würden.
»Also, was ist zu tun? Ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« Marcian richtete sich vom Grafen-Thron des Shazar auf und blickte mit vor der Brust verschränkten Armen in die Runde.
»Wir sollten uns für einen Kampf bereit machen.« Lysandras Linke spielte nervös an ihrem Schwertknauf. »Das Getrommel und die Scharmützel der letzten Tage, das alles deutet darauf hin, daß wir stündlich mit einem neuen Angriff zu rechnen haben. Auch wenn viele Geschütze aus den Belagerungsschanzen der Orks abgezogen wurden, so hat Sharraz mehr als genug Krieger zur Verstärkung bekommen, um diesen Verlust auszugleichen.«
»Dann sollten wir uns aber auch auf einen Kampf im Tunnel vorbereiten«, meldete sich Himgi zu Wort. »Es muß die Orks Wochen gekostet haben, diesen Gang unter unseren Stadtmauern hindurchzutreiben. So kurz vor dem Ziel werden sie nicht ihre Strategie ändern. Vielleicht wissen sie sogar, wie die Steinplatte beiseite zu schaffen ist? Ich rechne damit, daß sie beide Angriffe gleichzeitig vortragen.«
Marcian blickte zu Lancorian, der schweigend etwas abseits der Offiziere stand. Noch immer hatte der Magier ihm nicht verziehen, daß er die Fuchshöhle hatte beschlagnahmen lassen. Als Lancorian den Blick des Inquisitors spürte, erhob er stolz sein Haupt und blickte ihn mit vor Zorn sprühenden Augen an.
»Habt ihr alle denn immer noch nicht begriffen, worum es hier geht? Glaubt ihr wirklich, wir würden hier nur um eine magische Waffe kämpfen? Einen Streitkolben, den die Orks von ihrem Gott persönlich erhalten haben? Nein. Es geht hier um sehr viel mehr. Glaubt ihr eine Waffe wäre es wert, daß die Orks noch nach mehr als zweitausend Jahren nach ihr forschen? Daß sie jahrhundertelang immer wieder versuchen, diese Stadt dem Erdboden gleichzumachen? Erinnert euch an das, was uns Arthag erzählt hat. Die Orks waren bereits geschlagen, doch den Elfen und Zwergen gelang es nicht, das Heiligtum unter dem Hügel zu erobern. Eine Gestalt stieg vom Himmel herab, und die drei tapfersten Helden aus den Völkern der Zwerge, der Menschen und der Elfen stiegen in die Tunnel, um das zu holen, was dort verborgen lag. Keiner kehrte zurück! Erst das Eingreifen eines Gottes verschüttete diese unselige Höhle. Was wäre geschehen, hätte Ingerimm nicht Summs’ Leib erbeben lassen? Hätten die Orks am Ende gar triumphiert? Und ihr setzt alles daran, diese Höhle zu öffnen, ihr seid Narren!«
»Wenn wir es nicht tun, werden es die Orks tun.« Lysandra blickte Lancorian voller Verachtung an. »Ihr seid ein gescheiterter Magier und Besitzer eines Bordells. Von Euch erwartet keiner, daß Ihr heldisch denkt.«
»Die, die heldisch dachten und vor über zweitausend Jahren unter den Hügel gezogen sind, hat niemals wieder jemand lebend zu Gesicht bekommen.«
Der Magier drehte sich zu Marcian. »Vielleicht ist es sogar ein Fehler, dem Schicksal die Stirn bieten zu wollen. Seit du in dieser Stadt bist, um sie zu befreien, sind Hunderte Bürger vertrieben worden oder haben den Tod gefunden. Ich muß sagen, zu Zeiten der Orkbesatzung ging es uns besser. Und ...«
»Elender Verräter!« Lysandra hatte ihr Schwert gezogen und setzte dem Magier die Klinge an die Kehle, doch Lancorian stockte nur einen kurzen Augenblick in seiner Rede.
»Sieh, was hier geschieht, Marcian! Gestern starben mehr als zwanzig Bürger dieser Stadt in den Flammen eines Scheiterhaufens. Ich wohne hier seit Jahren. Ich habe sie alle gekannt. Einem Fremden wie dir fällt es sicherlich leichter, solche Urteile zu fällen. Erinnerst du dich zum Beispiel an das kleine Mädchen, das dort oben gestanden hat? Sie hatte gerade erst sechs Sommer gesehen. Sie war die Tochter des Hundezüchters Wingolf. Ihre Mutter starb bei der Geburt, und das Mädchen war das einzige, was der Mann in diesem Leben noch liebte. Oder Glombo Brohm. Bevor du in diese Stadt kamst, war er ein angesehener Handelsherr. Einer der reichsten Patrizier. Jetzt ist er wahnsinnig. Täglich geißelt er sich bis zur Bewußtlosigkeit, und täglich findet er mehr Anhänger, die es ihm gleichtun.«
»Sag ein Wort, Kommandant, und der Kopf dieses Hurensohns liegt zu deinen Füßen«, zischte Lysandra.
Schon hatte den Zauberer die Klinge der Amazone geritzt. Ein dünner Faden Blut rann von Lancorians Kehle.
»Haltet ein!« Marcian stieg die Stufen von seinem erhöhten Sitz herab und fiel Lysandra in den Arm. »Die Trauer hat ihm die Sinne verwirrt. Er weiß nicht mehr, was er sagt.«
»Ich weiß sehr wohl, was ich sage.« Lancorian spie dem Inquisitor ins Gesicht. »Ihr habt Tod und Wahnsinn in diese Stadt gebracht. Dämonen wandern unsichtbar durch unsere Straßen. Wie sonst hätte sogar Kinder die Duglumspest befallen können? Die Hälfte von Greifenfurt liegt in Trümmern. Selbst die Krieger sind vor Hunger so geschwächt, daß sie kaum noch ihre Schwerte heben können, und vor den Toren rüsten die Orks zu einem neuen Sturm. Jede Nacht habe ich Alpträume und sehe, wie diese Stadt in einem Feuersturm vergehen wird. Kein Jahr wird es dauern, und von Greifenfurt wird noch weniger übrig sein als von Ysilia, wo einst die Oger gehaust haben. Befreit nur das, was ich unter der Erde gesehen habe, und ihr stoßt euch , selber die Pforten zu Boron auf!«
»Und was hast du gesehen?« Marcians Stimme klang wie ein Knurren. Doch Lancorian schwieg.
»Stundenlang hat er die Schlange auf der großen Steinplatte untersucht und die Erde, in die die Platte eingelassen ist. Dabei hat er ständig irgend etwas vor sich hingemurmelt. Ich glaube, er hat die Platte verhext! Plötzlich schrie er dann laut auf und hat sich die Hände auf das Gesicht gepreßt. Dann kauerte er eine Weile wimmernd vor der Steinplatte und ist schließlich aus dem Gang herausgestürmt, als säßen ihm alle Dämonen der Niederhölle im Nacken.« Dem Zwergenhauptmann war immer noch anzusehen, wie sehr ihn dieser seltsame Zwischenfall beeindruckt haben mußte. Der Magier warf Himgi einen spöttischen Blick zu. »Verhext? Dämonen? Du Narr. Ich weiß um die wirkliche Beschaffenheit der Steinplatte. Ich habe die unendlich verworrenen magischen Muster gesehen, die um diesen Stein gelegt sind. Das ist ein Zauber, wie ihn heute sicherlich nicht einmal eine Handvoll Magier aus ganz Dere noch beherrschen. Doch das war noch nichts im Vergleich zu der Macht, die die Höhle selber schützt. Du närrischer Zwerg glaubst doch noch immer, daß der zweite Zauber verhindern soll, daß man von außen durch das Erdreich in die Höhle gelangt. Blanker Unsinn. Dort, wo du es nicht vermocht hast, eine Spitzhacke in lehmige Erde zu treiben, wirkt die Macht nur noch schwach. Im Inneren der Höhle muß sie so stark sein, daß ein Magier, der versucht, ihr Muster sichtbar zu machen, von der ungeheuren Energie, die in diesem Zauber gebündelt ist, geblendet würde. Die Augen würden ihm aus seinem Schädel brennen!«