Lancorian griff sich mit beiden Händen vors Gesicht, als würde er den Schmerz, den er schilderte, am eigenen Leib erfahren. Speichel rann ihm über die Lippen.
Dann stürzte er vornüber und wand sich in Qualen am Boden. »Bitte nicht! Ich werde dich nicht wieder stören! Bitte nicht!« Lancorian erbebte am ganzen Körper. »Das, was dort liegt, haßt Magier!« schrie er mit gellender Stimme. »Als ich meinen Blick auf die Gestalt wenden wollte, hat sie mich fast geblendet und ...« Lancorians Stimme ging in ein undeutliches Gurgeln über.
»Schnell, holt Gordonius«, befahl Marcian, und Arthag, der der Tür am nächsten gestanden hatte, huschte aus dem Saal.
Die Elfe Nyrilla kniete sich neben Lancorian. Behutsam tastete sie nach seinem Gesicht. Die Hände des Magiers lagen noch immer wie zu Klauen verkrampft über seinen Augen.
»Es spürt, daß ich an das denke, was ich gesehen habe«, flüsterte Lancorian. Dann bäumte er sich wieder unter gellenden Schreien auf. »Rettet mich vor dem Licht! Es brennt mir die Augen aus dem Kopf!«
Plötzlich verfiel der Magier in hysterisches Gelächter, und seine Stimme wurde immer dunkler, bis sich aus dem unheimlichen Lachen Worte formten.
»Marcian, ich warte auf dich. Seit Jahrtausenden ist es uns bestimmt, einander zu begegnen. Dein Schicksal wird sich bald erfüllen. Du aber, Lysandra, wirst meinen Herren verraten.«
Während die Stimme ertönte, erfüllte ein überirdisches Leuchten den Raum, und mit leisem Scharren fuhr Marcians Schwert aus der Scheide, ohne daß der Inquisitor seine Hand an die Waffe gelegt hätte. Mit der Spitze auf Lysandras Herz weisend, schwebte das Schwert durch die Luft. Die Waffe schlug gegen den Brustpanzer der Amazone und fiel ihr dann vor die Füße. Totenstille herrschte in dem kleinen Saal. Niemand konnte sich die eigenartigen Phänomene erklären. Einige schlugen Schutzzeichen gegen böse Geister, andere murmelten leise Gebete.
Lysandra kniete nieder und hob das Schwert auf. Einen Augenblick wog sie die Waffe prüfend in ihren Händen, dann trat sie vor Marcian. »Euer Schwert, Kommandant.«
Die dunkle Stimme, die den Raum hatte erzittern lassen, war verhallt. Lancorian lag leise wimmernd am Boden. Vorsichtig nahm er seine Hände vom Gesicht.
»Meine Augen! Ich kann nicht mehr sehen! Bei allen Göttern, nein. Bitte nicht das.«
Marcian legte dem weinenden Magier die Hand auf die Schultern. »Bitte verzeih mir, mein Freund, das habe ich nicht gewollt. Verzeih mir.«
»Ich kann dir nicht mehr verzeihen. Du bringst Unglück über jeden, der an deiner Seite steht. Doch jetzt, wo ich ohnehin schon bestraft bin ... kann ich dir auch sagen ... was ich ... gesehen ... habe.«
Lancorians Stimme klang immer angespannter, so als würden seine Schmerzen wieder zunehmen. »Der Zauber soll ... nicht verhindern ... daß wir hereinkommen. Er verhindert ... daß er herauskommt. Such deinen ... Weg bei Tag. Nur ... ein ... Wort ... öffnet ... den ...« Stöhnend sank der Zauberer zur Seite.
»Was öffnet ein Wort? Wie meinst du das?« Marcian hatte den Bewußtlosen bei den Schultern ergriffen und schüttelte ihn. »Sag schon. Was für ein Wort!«
»Laßt von ihm ab. Er hört euch nicht mehr.« Gordonius war eingetreten und kniete nun ebenfalls neben dem Magier.
»Was ist mit ihm?« Mühsam hielt sich Marcian so weit unter Kontrolle, daß er den Therbuniten nicht anschrie.
Der graubärtige Mann tastete nach Lancorians Hals. Dann legte er sein Ohr an die Brust des Zauberers. Schließlich richtete er sich auf und blickte Marcian kalt an. »Den habt Ihr noch nicht auf Eurem Gewissen, aber viel hätte nicht gefehlt. Er ist ohnmächtig, und die Götter allein wissen, wann er wieder erwachen wird. Sein Herz schlägt nur noch schwach.«
»Denk nicht einmal daran«, herrschte Nyrilla den Zwergen an. »Ich werde nicht versuchen herauszubekommen, was Lancorian gesehen hat. Ich werde weder mit dir in diesen Tunnel gehen, um dort die merkwürdige Steinplatte zu untersuchen, noch werde ich auch nur den leisesten Versuch unternehmen, auf magischem Wege Zugang zu dieser Kammer zu suchen. Ich will mein Augenlicht behalten!«
Schweigend erklommen sie die Wendeltreppe, die zu den Gastgemächern im Palas der Garnison führte. Erst als Nyrilla schon vor der Tür zu ihrer Kammer stand, sprach Arthag die Elfe noch einmal an.
»Hast du eigentlich noch etwas Rauschkraut?«
»Was soll die Frage?« Nyrilla drehte sich zum Zwerg um. »Ist dir das Premer Feuer ausgegangen? Du wirst mir doch nicht ernsthaft erzählen wollen, daß du ...«
»Nein, nein.« Der Zwerg hob abwehrend die Hände. »Es ist nicht so, wie du denkst. Ich hatte nur eine Idee. Wir haben doch einen Hellseher. Vielleicht weiß der weiter? Nur werden wir ihm helfen müssen. Stoßen wir ihm das Tor auf, durch das er die Zukunft sieht. Alles weitere nimmt dann schon seinen Lauf.« Der Zwerg grinste. »Meinst du nicht, es ist einen Versuch wert?«
»Was du da vorhast, ist nach menschlichem Maßstab zutiefst unmoralisch.«
Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Findest du? Wenn die Orks morgen die Stadt überrennen, ist ohnehin alles vorbei. Warum sollten wir Uriens nicht noch ein paar schöne Stunden bereiten. Wenn das Rauschkraut nicht so wirkt, wie ich hoffe, dann wird es ihm auch nicht schaden. Wenn wir aber von ihm etwas erfahren, daß die Stadt retten könnte, dann war es den großzügigen Umgang mit Moral doch wohl wert.«
Nyrilla zögerte noch immer. Nicht, daß sie so sehr um das Schicksal des Wahnsinnigen besorgt war, doch ihr Vorrat an Rauschkraut war fast erschöpft und bei dem, was nun kommen mochte, wäre es schon angenehm, wenigstens gelegentlich für ein paar Stunden Angst und Verzweiflung hinter sich lassen zu können. Auf der anderen Seite konnte es gut sein, daß sie den nächsten Sonnenuntergang nicht mehr erlebte ...
»Also gut, laß es uns versuchen.« Nyrilla öffnete die Tür, vor der sie noch immer stand, und holte den kleinen, bestickten Lederbeutel, den sie sorgfältig unter ihrer Matratze verborgen hatte.
»Das war dann wohl nichts!« giftete Nyrilla den Zwerg an. Schon zwei Stunden hatten sie in dem Kerker tief unter der Garnison bei Uriens verbracht, wo der Wahnsinnige zu seinem eigenen Schutz, wie Marcian es nannte, gefangengehalten wurde. Fast die Hälfte ihres ohnehin bescheidenen Rauschkrautvorrats war bei dem Versuch aufgebraucht worden, Uriens zum Sprechen zu bringen. In einem Mörser hatten sie die getrockneten Blätter mit etwas Wasser zu einem zähen Brei verarbeitet und Uriens mit einem Löffel in den Mund gestrichen.
Der grausam Verstümmelte war in einem Zustand, in dem er nicht einmal alleine essen konnte. Schon ohne ihr Zutun schien er in anderen Sphären zu weilen.
Als sie den Kerker betreten hatten, lag Uriens zusammengerollt auf seinem Bett und summte vor sich hin. Selbst als sie ihn mit dem Brei aus Rauschkraut gefüttert hatte, schien er sie nicht wahrgenommen zu haben. Willenlos ließ er alles mit sich geschehen. »Es reicht, hörst du mich, Arthag!«
»Was ...« Der Zwerg hockte in einer Ecke und schien kurz eingeschlafen zu sein. »Was ist, Nyrilla?«
»Ich werde jetzt gehen. Wenn es dir beliebt, hier zu übernachten, werde ich dich nicht weiter stören.«
Warum hatte sie nur auf Arthags dumme Ratschläge gehört? Sie hätte es doch wirklich besser wissen müssen. Elfen und Zwerge, das ging nicht zusammen.