»Warte doch noch einen Moment«, brummte Arthag schlaftrunken und klappte die Wachstafeln zusammen, die er auf seine Knie gelegt hatte, um Uriens Worte mitzuschreiben.
»Nein! Ich bin es leid, euch beiden beim Schlafen zuzusehen.« Nyrilla griff nach der Laterne neben sich und ging auf die Kerkertür zu.
Uriens lallte im Schlaf.
»Hörst du?« Arthag hatte seine Wachstafeln wieder aufgeklappt. »Gleich wird er zu uns sprechen.«
Nyrilla warf dem Zwerg einen mitleidigen Blick zu. »Diesen Prophezeiungen hab ich heute schon genug gelauscht. Schlag du dir nur ruhig die Nacht um die Ohren. Ich geh jetzt. Vielleicht muß man ja auch ein trinkfester Zwerg sein, um aus diesem Gelalle etwas zu verstehen.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ die Elfe die Zelle. Ihre letzten Worte taten ihr leid, aber sie war es müde, mit dem Zwerg zu debattieren, und das sicherste Mittel ihn zum Schweigen zu bringen war ihn zu beleidigen.
»Nyrilla, wach doch endlich auf!«
Wieder wurde sie durchgeschüttelt. Nur schwer fand die Elfe in diese Welt zurück. Vor dem Schlafengehen hatte sie selbst einige Blätter Rauschkraut zerkaut.
Jetzt konnte sie verschwommen die Gestalt des Zwergs erkennen.
»Was ist? Greifen die Orks schon an?« Nyrilla hatte von einer langen Reise durch eine Feenwelt geträumt, in der immer Frühling war, und die Kälte in ihrer Kammer wurde ihr jetzt um so deutlicher bewußt.
»Nyrilla, er hat gesprochen ...«
»Na und ...« Es war noch völlig dunkel in ihrer Kammer. Nicht ein Lichtstrahl fiel durch die hölzernen Läden, die das Fenster zum Hof der Garnison verschlossen. Undeutlich wurde ihr bewußt, daß sie noch nicht lange geschlafen haben konnte.
»Hörst du denn nicht?« Wieder schüttelte der Zwerg sie durch. »Uriens hat gesprochen! Die ganze Zelle war plötzlich voller Licht, und er hat mit so erhabener Stimme seine Prophezeiung verkündet, daß mir ganz warm ums Herz wurde. Es schien auch, als seien alle seine Wunden verheilt und...«
Langsam wurde Nyrilla etwas klarer. »Und was hat er gesagt?«
Der Zwerg zögerte.
»Na los, rede schon! Was hat er gesagt? So schlimm kann es ja wohl nicht gewesen sein, oder?« Die Elfe richtete sich im Bett auf und blinzelte durch die dunkle Kammer. Es war unmöglich, Arthags Gesichtsausdruck zu erkennen. Noch immer gab der Zwerg keine Antwort.
»Wenn du mir nichts zu sagen hast, warum bist du dann hier?«
»Weil ich deine Hilfe brauche«, eröffnete Himgi schließlich zerknirscht.
»Ich hab kein Wort verstanden, von dem, was Uriens gesagt hat. - Aber ich habe alles aufgeschrieben!«
»Dann laß mal hören.«
Wieder zögerte Arthag. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir noch einmal alle Offiziere zusammenrufen. Was ich niedergeschrieben habe, ist wirklich nicht leicht zu verstehen, aber es scheint sehr wichtig zu sein. Ich habe nur halt bei dir angefangen. Würdest du jetzt Marcian wecken? Ich hole dann die anderen.«
Ohne ihr Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, verschwand der Zwerg aus dem dunklen Zimmer.
Nyrilla seufzte. Dann schwang sie sich aus dem Bett und tauchte ihren Kopf in die Schüssel mit kaltem Wasser, die auf dem Tisch unter dem Fenster stand.
»Zwerge«, murmelte sie immer wieder mißmutig vor sich hin. »Zwerge!«
Die Stimmung im Thronsaal war gereizt. Auch wenn die meisten der dort Versammelten, in Erwartung des Angriffs im Morgengrauen, nicht geschlafen hatten, so hatte es doch des ausdrücklichen Befehls Marcians bedurft, sie hier zusammenzubringen. Mancher wäre jetzt lieber alleine gewesen, um sich im stillen und auf seine Art, auf das, was da kommen würde, vorzubereiten.
Arthag blickte in die Rune. Gordonius, Himgi, Lysandra, Darrag und fast ein Dutzend Offiziere der verschiedenen Bürgerwehreinheiten waren versammelt, und alle starrten zu ihm herüber. Die einen ärgerlich, andere neugierig und manche fast teilnahmslos, so als hätten sie sich schon in ihr Schicksal ergeben.
»Nun, Arthag, was hast du uns so dringendes zu berichten?« Marcian hatte sich vom Thronsaal erhoben, und alle Gespräche verstummten.
Der Zwerg räusperte sich verlegen. Immer wenn er vor so vielen Leuten reden mußte, fühlte er sich unwohl. Dann erzählte er die Geschichte von dem Besuch in Uriens Kerker, wobei er alle Details in bezug auf das Rauschkraut und den Streit mit Nyrilla aussparte. Dann zog er unter seinem Wams die Wachstafeln hervor, auf denen er den Orakelspruch des Wahnsinnigen niedergeschrieben hatte und las laut vor:
Einen Moment war es still. Dann platzte ein Bürgerwehroffizier heraus.
»Blanker Unsinn ist das! Und deswegen zieht ihr mich von meinem Posten ab. Ich hab das Andergaster Tor auf den Angriff der Orks vorzubereiten. Für alberne Kinderreime bleibt mir keine Zeit.«
»Hüte deine Zunge, du Wurm!« Gordonius hatten die Worte zutiefst bewegt, und der alte Therbunit hätte dem Soldaten am liebsten eine Tracht Prügel verabreicht. »Erkennst du nicht, daß durch Uriens ein höheres Wesen gesprochen hat?«
»Und wer sagt, daß dieses höhere Wesen mit uns Gutes im Schilde führt?«
Lysandra lehnte an der Wand neben der Tür und blickte zynisch lächelnd zu dem grauhaarigen Therbuniten herüber.
»Recht hat sie!« mischte sich wieder der Offizier ein. »Vielleicht sollen wir durch dieses Orakel nur von der Verteidigung der Stadt abgelenkt werden?«
»Ruhe. Offensichtlich ist hier doch wohl die Rede von der Steinplatte, die den Zugang zur Kultstätte unter dem Platz der Sonne verschließt. Was sonst sollte gemeint sein, wenn in dem Orakelspruch von einem Elfenstein, der im Gebein steht, die Rede ist. Ihr habt doch ungeheure Mengen von Knochen dort aus dem Gang geräumt, oder?« Marcian blickte zu Himgi.
»Das stimmt«, bestätigte dieser. »Und wenn man die Steinplatte anfaßt, so fühlt sie sich kalt an, ganz so, wie sie im Orakelspruch beschrieben wird.«
»Wiederhole das zweite Reimpaar!« forderte Marcian Arthag auf.
»Damit kann doch wohl nur Wachs gemeint sein«, fügte Arthag hinzu.
»Dieser Teil des Rätsels ist leicht.«
»Ist er das?« Nyrillas Stimme war noch nicht ganz klar. Die Wirkung des Rauschkrauts steckte ihr noch in den Knochen. Diese Lösung erschien ihr gar zu simpel. Als Elfe, die von Kindesbeinen an mit Wortspielen und Rätselfragen vertraut war, konnte sie an eine so einfache Lösung nicht glauben.
»Warum heißt es dann gleich im nächsten Reimpaar: Doch Vorsicht vor der Worte Spiel, der Tempel Glanz führt nicht zum Ziel. Nein, Wachs kann nicht die Lösung sein. Das ist ein Wortspiel, das uns verwirren soll.«
»Wortspiele, Doppelsinn, Verwirrung. Das ist doch eine Falle. Wenn die Zwölfgötter auf unserer Seite stehen, warum helfen sie uns dann nicht? Wozu dieses Rätsel? Das hat sich der Namenlose ausgedacht!« Lysandra redete sich immer mehr in Rage, und etliche der Offiziere dachten offensichtlich ähnlich wie die Amazone.
»Laßt lieber unsere Schwerter sprechen!« rief jemand, den Arthag nicht sehen konnte.
»Die Schwerter werden noch früh genug sprechen«, brummte Gordonius.
»Und was eure Mutmaßungen über den Namenlosen angeht, glaubt ihr vielleicht, er oder einer seiner Diener würde es wagen, Peraines Namen in sein schändliches Spiel zu verstricken? Nein! Das Orakel ist wahrhaftig! Und gerade weil die Botschaft verschlüsselt und vieldeutig ist, sehe ich in ihr einen himmlischen Fingerzeig, uns vor einem grausigen Schicksal zu bewahren. Töricht ist, wer glaubt, daß ein göttliches Orakel so klar und unmißverständlich wie das Geschrei eines Marktweibes ist.«