Dann war ein leises Knirschen gefolgt von einem dumpfen Schlag zu hören und kurz darauf ein infernalischer Lärm. Dichte Staubwolken wälzten sich durch die Maueröffnung. Marcian mußte husten. Jeder Atemzug wurde zur Qual. Die Lungen brannten. Das Gefühl zu ersticken wurde immer stärker.
»Wir müssen hier raus«, keuchte Arthag.
Doch Marcian wollte noch auf Himgi warten. Er mußte doch jeden Moment kommen!
»Himgi, wo steckst du?« schrie der Inquisitor mit heiserer Stimme. »Los, sag schon was.«
»Er hat gewußt, was er tat, Marcian. Laß uns gehen. Himgi hat ein Grab gefunden, das eines Zwergen würdig ist.«
»Nein!« Die Stimme des Kommandanten klang schrill, fast schon hysterisch. »Ich werde ihn suchen!« Marcian riß eine der Fackeln, die an der Wand hingen aus ihrer Halterung. »Er lebt! Hörst du! Kümmer du dich um deine Tote, Arthag, ich muß in den Tunnel zurück.«
»Nein, Kommandant. Das ist Wahnsinn. Schon eine leichte Erschütterung kann jetzt zu weiteren Einstürzen führen. Außerdem wird es noch eine Ewigkeit dauern, bis sich der aufgewirbelte Staub so weit gelegt hat, daß man wieder etwas erkennen kann.« Arthag wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Der Zwerg stellte sich breitbeinig in die Spalte, die zum Tunnel führte.
»Himgi, sag doch was!« schrie der Inquisitor wieder in den wirbelnden Staub hinein, doch alles blieb ruhig.
»Es ist vorbei, seht das doch endlich ein.«
Marcian zog sein Schwert. »Du wirst mich nicht daran hindern, jetzt in diesen Tunnel zu gehen.« Er würde Arthag zur Not niederschlagen.
»Denkt daran, die Stadt braucht Euch und ...«
»Mach Platz!« Marcian zielte mit dem Schwert nach der Kehle des Zwergen. Langsam wich Arthag zur Seite.
»Ihr seid ein Narr, Kommandant.«
»Und Narren soll man nicht widersprechen.« Marcian leuchtete mit der Fackel in den Tunnel hinein. Das Licht des Greifen war verschwunden. Der Gang mußte vollkommen mit Erde ausgefüllt sein. Mit der Rechten zielte der Inquisitor immer noch nach Arthags Kehle. Vorsichtig schlüpfte er durch den Mauerspalt und tastete sich langsam ins Dunkel.
Der Staub in der Luft dämpfte das Licht der Fackel so stark, daß Marcian kaum sehen konnte. Noch immer rieselte Erde von der Decke. Weiter entfernt war das Geräusch von polternden Steinen zu hören.
»Himgi! Himgi, wo bist du.« Der Inquisitor wagte nicht, laut zu rufen, aus Angst einen neuen Einsturz auszulösen.
Staub füllte seinen Mund. Seine Lungen brannten, und die Luft wurde immer schlechter, je weiter er vorstieß. Jeder Atemzug wurde zur Qual. Die Flamme der Fackel flackerte unstet und drohte zu erlöschen.
Nur ein paar Schritt noch, dachte Marcian, dann würde er umkehren. Wieder rief er leise nach dem Zwergenhauptmann.
Es war sinnlos. Wahrscheinlich lag Himgi irgendwo unter den Trümmern begraben. Der Inquisitor hatte jetzt einen Punkt erreicht, wo der Gang völlig verschüttet war. Es war unmöglich hier noch weiter zu kommen. Niedergeschlagen machte er sich auf den Rückweg. Mühsam zwängte er sich an einem eingedrückten Deckenbalken vorbei, der den Gang halb blokkierte. Dann machte er eine kurze Pause und lehnte sich gegen die Höhlenwand. Sein Atem ging pfeifend, und sein Mund war trocken und voller Staub. Doch was war das? Als er langsam wieder zu Atem kam, wurde ihm bewußt, daß er mit dem linken Fuß auf einem seltsamen Ding stand. Marcian leuchtete mit der Fackel den Boden ab. Er stand auf einer Hand! Himgis ausgestreckter Arm ragte unter dem Balken hervor, der den Tunnel versperrte.
Der Inquisitor kniete sich nieder, um Erde und Geröll beiseite zu schieben. Schnell hatte er den Oberarm freigelegt und dann den Kopf. Der Zwerg hatte Glück im Unglück gehabt. Ein Stück des Deckenbalkens und ein Felsbrocken hatten eine Nische gebildet, so daß er nicht von den herabstürzenden Erdmassen erstickt worden war, sondern Kopf und Oberkörper in einer kleinen Höhlung lagen.
»Himgi!« Marcian versetzte dem Zwerg eine leichte Ohrfeige. »Komm zu dir!« Doch der Hauptmann regte sich nicht.
Der Inquisitor zog seine Handschuhe aus und befühlte das Gesicht des Zwergen. Es war noch warm. Es mußte noch Leben in ihm sein!
Vorsichtig räumte er noch mehr von den Trümmern beiseite, doch immer wieder rutschte neue Erde nach. Bis zur Hüfte hatte er den Zwerg befreien können, doch beide Beine waren noch unter Geröll begraben.
Marcian packte ihn unter den Achseln und versuchte Himgi herauszuziehen. Vergebens.
Erschöpft lehnte er sich wieder zurück. Der Versuch, den Zwergen zu befreien, hatte ihn fast seine letzten Kräfte gekostet. Keuchend lauschte der Inquisitor in die Finsternis. Noch immer war der Gang nicht zur Ruhe gekommen. Ständig war das Geräusch nachrutschender Erde zu hören.
Besorgt hob er die Fackel. Der dicke Balken, der unmittelbar vor ihm die Decke abstützte, hatte einen fast fingerbreiten Riß. Wollte er Himgi von hier wegbringen, blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
Marcian versuchte, das Geröll hinter dem Balken wegzuscharren, um Himgis Beine freizulegen. Mit beiden Händen schaufelte er Steine und Erde beiseite. An dieser Stelle hatte er mehr Glück. Bald war das rechte Bein frei, doch dann stieß er auf einen großen Felsbrocken, unter dem das linke Bein des Zwergen begraben war.
Der Inqusitor fluchte. Der Stein war zu groß. Allein konnte er ihn nicht von der Stelle bewegen. Das Knirschen des angebrochenen Deckenbalkens hinter ihm wurde lauter.
Noch einmal packte Marcian den Zwerg unter den Achseln und versuchte ihn herauszuziehen, doch alle Mühe war vergebens. Himgi stöhnte leise, dann schlug er die Augen auf.
»Was ... was macht ... Ihr hier?« Die Stimme des Zwergenhauptmanns schwankte vor Schmerzen.
»Stell keine dummen Fragen, versuch lieber, ob du dein linkes Bein bewegen kannst«, entgegnete Marcian barsch.
Himgi verzerrte sein Gesicht. Schweiß perlte von seiner Stirn, schließlich stöhnte er laut auf. »Unmöglich!«
Wieder knirschte der Deckenbalken, und eine Lawine von Staub und Erde stürzte hinter ihnen in den Gang.
»Macht, daß Ihr ... hier wegkommt ... Ihr Narr. Wem nutzt es, wenn ... wir beide sterben! Die Stadt ... braucht Euch!«
»Ohne einen fähigen Artillerieoffizier sind wir genauso verloren. Ich werde nicht ohne dich gehen. Es gibt noch einen Weg. Wenn ich dich mit dem Bein nicht hier herausbekomme, dann eben ohne.« Marcians Atem ging keuchend. Mit bedächtiger Bewegung, ja fast zögerlich ließ er sein Schwert aus der Scheide gleiten.
»Nicht das!« Himgi wand sich am Boden. »Macht mich nicht ... zum Krüppel.«
Dem Inquisitor zitterte ein wenig die Hand. Er mußte das Bein kurz oberhalb des Kniegelenks treffen und die Wunde danach schnell abbinden, sonst würde Himgi verbluten.
»Ich ... verfluche Euch!« Der Zwerg drehte den Kopf zur Seite und spukte dem Inquisitor vor die Füße.
Marcian stieß zu. Seine Schwertspitze durchtrennte den Muskel des Oberschenkels und glitt dann am Knochen ab. Himgi schrie gellend auf. Die Wunde blutete stark. Marcian biß sich auf die Lippen. So ging es nicht. Er hatte nicht genügend Platz, um mit dem Schwert auszuholen und einen sauberen Schlag zu landen. Würde er es wieder mit einem Stoß versuchen wie eben, würde die Waffe wahrscheinlich erneut am Oberschenkelknochen abrutschen.
Hastig schnallte er die Brustplatte seiner Rüstung ab und legte sie über das unverletzte Bein des Zwergen. Dann schob er das Schwert unter Himgis linkes Bein und drehte die Klinge nach oben. Das Bein war fest eingekeilt, und mit dem Brustpanzer als Stütze konnte er das Schwert nun wie einen Hebel einsetzen.
Marcian warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Griff der Waffe. Die Klinge schnellte hoch und schnitt ins Fleisch des Zwergen. Wieder schrie Himgi erbärmlich auf, bis sich seine Stimme überschlug und sein Kopf zur Seite sank.
Noch immer konnte der Inquisitor deutlich den Widerstand des Knochens spüren.