Mehr als eine Meile zog sich der Konvoi den Fluß hinab. Zum Schutz der Zugpferde patrouillierten Reiter am rechten Flußufer, und Prinz Brin ritt mit seinem Gefolge an der Spitze des Zuges. Er schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, wie leicht ihn der Pfeil eines verborgenen Bogenschützen treffen konnte. Erst an diesem Morgen war ein Soldat, der neben ihm stand, durch einen Pfeil zu Tode gekommen. Vermutlich dachte Prinz Brin gar nicht daran, daß das Reich erneut in Chaos und Anarchie versinken würde, wenn er starb. Wer sollte ihm auf den Thron des Kaisers folgen? Anshelm erschauderte bei dem Gedanken. Er wußte, daß einige seiner Brüder daran dachten, daß es in diesem Fall das beste sei, den Boten des Lichts, den Hohen Priester des Praios, zum Herrscher auszurufen, so wie es vor langer Zeit schon einmal geschehen war, als der Thron in Gareth verwaist war. Vielleicht wäre das wirklich das beste? Doch zunächst galt es den jungen Prinzen, der trotz seiner kurzen Regierungszeit im Volk immer beliebter wurde, nach Kräften zu schützen.
An der Spitze des Zuges ertönte ein Signalhorn. Ein Spähtrupp unter der Führung Oberst von Blautanns kehrte zur Hauptmacht zurück. Anshelm gab seinem Grauen die Sporen, um zum Prinzen aufzuschließen.
Doch zu viele hatten sich schon um den Prinzen versammelt und so konnte Anshelm nur wenige Worte hören, die der Wind ihm zutrug.
»... Durchkommen unmöglich ... überall Orks. Zu wenige, um die Hauptmacht aufzuhalten, aber ... für Spähtrupps. Wir müssen nahe an ihrem Lager sein und ...«
Ein Durchkommen unmöglich? Anshelm konnte darüber nur verächtlich schnauben. Hier war die Elite der kaiserlichen Ritterschaft und mehr als zwanzig Geweihte der Rondra, die in den Stand der Ritterschaft erhoben waren. Sie alleine würden ausreichen, um die Orks aus den Büschen zu treiben, in denen sie sich verstecken mochten.
Doch der Prinz ließ zum Sammeln blasen, und dann verkündete ein zweites Hornsignal, daß sich alle Offiziere und Würdenträger um ihn versammeln sollten.
Andra verstand die kaiserlichen Offiziere nicht. Während sie in der ersten Reihe des riesigen Reitertrupps trabte, der sich nun den Fluß hinauf bewegte, dachte sie wieder an die Stabsbesprechung.
Die Kaiserlichen wußten nichts über die Orks und ihre Verteidigungsvorbereitungen. Ja, sie wußten nicht einmal wie viele Gegner vor ihnen lagen. Alle Spähtrupps, die man den Fluß hinauf geschickt hatte, waren niedergemacht worden. Nur der junge Ritter Roger, ein Streiter aus dem Gefolge des Prinzen, hatte Glück gehabt. Er war der einzige, der von einem zehnköpfigen Spähtrupp zurückgekehrt war.
Die Schiffer, die diesen Abschnitt des Flusses kannten, hatten erklärt, daß in etwas mehr als einer Meile Entfernung der Zusammenfluß von Auge und Breite lag. Wahrscheinlich befand sich dort das Lager der Orks. Um sich Klarheit zu verschaffen, wurden zwei Magier ausgeschickt, die Tiergestalt angenommen hatten, doch auch sie blieben verschwunden. Dann sollte vorzeitig ein Nachtlager aufgeschlagen werden, und die Versammlung löste sich schon auf, als plötzlich der Wind drehte. Zum ersten Mal, seit sie Ferdok verlassen hatten, wehte er aus südlicher Richtung. Bei dieser Brise konnten es selbst die langsamen Flußboote in zwei Tagen bis Greifenfurt schaffen, und alle Pläne wurden umgeworfen. Der Prinz ließ die Reiter aufsitzen und gab den Offizieren Befehl, die Kämpfer zehn Reihen tief antreten zu lassen. Die ersten beiden Reihen, jeweils hundert Reiter, waren ausschließlich Ritter und schlachterprobte Kavalleristen. Sie sollten die Formation des Feindes aufreiben und wie ein Sturmwind über die Orks hinwegfegen. Um die Ritter mit Artilleriefeuer zu unterstützen, wurden sie auf dem Fluß von den kupferbeschlagenen Schiffen und drei Galeeren begleitet. Während die Reiter frontal angriffen, sollten die Schiffe das Lager der Orks vom Wasser her beschießen.
Wieder schüttelte Andra den Kopf. Die Mittagsstunde war schon längst verstrichen; es würde nicht mehr lange hell sein. Die Jägerin war von diesem Plan nicht überzeugt. Alrik hatte ihr vorgeworfen, daß sie nicht ritterlich dachte, doch nach ihrem Dafürhalten war es blanker Leichtsinn, einen Feind, über den man nichts wußte, frontal anzugreifen.
Trotzdem war sie mitgekommen. Warum, wußte sie selbst nicht ganz. Sie war eine Jägerin und kein Soldat. Noch vor wenigen Wochen hätten sie sich niemals auf so etwas eingelassen. Tat sie es wegen des Obristen? Wollte sie nicht, daß Alrik sie für feige hielt? Er hatte ihr angeboten im Lager zu bleiben und erklärt, daß auch hier besonnene Köpfe gebraucht würden.
Seine Worte waren vernünftig und trotzdem hatten sie in ihren Ohren wie eine Beleidigung geklungen. Sie hatte ihm eine schallende Ohrfeige gegeben und danach ihr Pferd gesattelt.
Und jetzt ritt sie an seiner Seite. Der Himmel hatte sich im Westen schon rötlich verfärbt, und vielleicht fünfhundert Schritt vor ihnen lag die Stelle, an der sich die grauen Fluten von Auge und Breite zum Großen Fluß vereinten.
Am Ostufer, direkt am Treidelpfad, erhob sich ein flacher Hügel. Dort schienen die Orks ihr Lager aufgeschlagen zu haben. Einige Rauchsäulen stiegen in den Himmel, und es war ein wenig diesig.
Andra kniff die Augen zusammen, aber es war unmöglich zu erkennen, ob die Schwarzröcke irgendwelche Verteidigungsanlagen errichtet hatten, oder einfach nur auf dem Kamm des Hügels standen und dort ihren Angriff abwarteten.
Die Schiffe hatten die Reiter schon überholt. Der gleichmäßige Schlag der Trommler, die den Ruderern auf den Flußgaleeren den Takt angaben, hallte über das Wasser. Auf den Decks waren Kohlebecken aufgestellt worden, um Brandpfeile und flüssiges Feuer zu verschießen.
Prinz Brin hatte seinem prächtigen Schimmel die Sporen gegeben und war ein Stück vor die Front der Reiter galoppiert, um dann sein tänzelndes Pferd zum Stehen zu bringen und die Reihe der Ritter entlangzublicken. Eine Mauer von blitzendem Stahl. Manche der reichsten Adeligen hatten sogar Panzer für ihre Pferde anfertigen lassen. Sie bildeten die linke Flanke. Ganz rechts standen die Ritter vom Orden der Rondra. Diese weitgerühmten Recken trugen altertümliche, weiße Waffenröcke über ihren Kettenpanzern, auf denen rot eine sich aufbäumende Löwin prangte, das Wahrzeichen ihrer Göttin. Direkt daneben hatten sich um einen kleinen, dicken Mann in Gewändern aus Gold und Brokat einige Ritter versammelt, deren kostbare Rüstungen mit Einlagen aus poliertem Messing verziert waren. Auf ihren Helmen prangten wallende Büsche aus roten und gelben Federn. Ihre Schilde und die Wimpel an den Lanzen zeigten Greifen. Sie mußten zur Tempelgarde der Stadt des Lichts bei Gareth gehören.
Der Kontrast zu den Rittern neben ihnen hätte nicht größer sein können. Sie trugen dunkle Harnische und waren die letzten der Schwarzreiter, die sich in der Schlacht bei Silkwiesen so sehr hervorgetan hatten. Alrik führte über sie das Kommando.
Das Zentrum der Schlachtreihe bildeten die Leibwachen des Prinzen, unter denen nun auch der junge Ritter Roger aufgenommen worden war.
Alle Augen waren auf den jungen Prinzen gerichtet. Es war fast völlig still. Nur ab und an war das Schnauben eines unruhigen Pferdes zu hören. Der Prinz verharrte einen Augenblick, dann zog er sein Schwert aus der Scheide und rief so laut, daß man es bis zu den Schiffen hören mußte: »Greifenfurt oder der Tod!«
Hunderte von Säbeln und Schwertern flogen aus den Scheiden, und wie Donnergrollen beantworteten die Reiter den Schlachtruf des Prinzen. »Greifenfurt oder der Tod!«
Der hundertfache Ruf hatte ein seltsames Gefühl in Andra geweckt. Alle ihre Zweifel waren geschwunden. Die Euphorie der anderen hatte sie angesteckt. Sie gab ihrem Braunen die Sporen, und wie eine Flut aus lebendem Stahl rasten sie auf den Hügel zu.
Das Donnern von Tausenden Hufen ließ den schneebedeckten Boden erbeben. Es war eine Lust, sich mit den anderen mitreißen zu lassen, den eisigen Wind auf den Wangen zu spüren und wie von einer riesigen Welle getragen vorwärtszutreiben.
Sie blickte zu Alrik, der neben ihr ritt. Sein Gesicht war angespannt und zeigte doch einen Ausdruck von Verzückung. Seine Augen waren fest auf den Hügelkamm gerichtet, den es zu erobern galt.