Whassoi war allerdings auch ohne seine Hilfe schon gut auf die Ankunft der Kaiserlichen vorbereitet gewesen, wie er dem Prinzen noch am selben Tag demonstriert hatte. Die Orkstellungen am Fluß zu überwinden war fast unmöglich. Wenn da nicht dieser verfluchte Thorwaler wäre ... Die Reiterkolonne war schon mehr als zwei Meilen vom Lager entfernt, als ihr Ziel in Sicht kam. An einer Enge des Großen Flusses waren etliche Lastkähne aneinandergekettet worden und bildeten eine Schiffsbrücke, die am Vortag in aller Eile gebaut worden war. Zwischen den Kähnen war jeweils ein Abstand von ungefähr zehn Schritt - soweit das in der Finsternis der frühen Morgenstunden zu erkennen war.
Von Schiffsbug zu Schiffsbug führten improvisierte Stege aus frischgeschlagenen Baumstämmen. Die Brücke war so schmal, daß sie höchstens zwei Reiter nebeneinander passieren konnten. Die langgestreckten Kajüten der Flußboote hatten eine Brückenführung mittschiffs unmöglich gemacht. Die ganze Konstruktion wirkte zerbrechlich, und Zerwas bezweifelte, daß sie der bevorstehenden Belastung standhalten würde. Die so ungleich verteilte Last auf den ohnehin schon schwer beladenen Schiffen drückte den vorderen Teil der Rümpfe tief ins Wasser.
Der Prinz, der an der Spitze der Kolonne ritt, zügelte sein Pferd und hob die rechte Hand. Dann besprach er sich kurz mit den Offizieren in seiner Nähe und überquerte schließlich mit von Blautann und dem Praios-Geweihten Anshelm als erster die Schiffsbrücke.
Ihre Ankunft am anderen Ufer blieb in der Finsternis verborgen. Erst nach einer ganzen Weile ertönte von der anderen Seite des Flusses ein Hornsignal. Darauf setzte sich die nächste kleine Reitergruppe in Bewegung. Zerwas schien es unendlich lange zu dauern, bis er endlich an der Reihe war. Die Pferde seiner Gefährten schnaubten nervös, als sie die in der Strömung leicht schwankenden Schiffsbrücke betraten. Sein Hengst jedoch blieb völlig ruhig. Jedesmal bevor er ihn bestieg, mußte er dem Pferd von einem Knecht eine Handvoll Rauschkräuter geben lassen, weil kein Reittier Deres ihn freiwillig auf seinem Rücken dulden würde. Tiere fürchteten ihn und mieden seine Nähe. Sie schienen über Instinkte zu verfügen, die die Menschen schon lange verloren hatten, denn normale Sterbliche konnte er ohne Probleme mit seiner Maske blenden.
Mit sicherem Schritt passierte der Hengst den ersten Abschnitt der Brücke. Jeweils acht bis zehn Stämme waren zusammengebunden und führten von einem Schiff zum nächsten. Die Brücke, die so entstand, war etwas mehr als zwei Schritt breit. Für die Pferde lieferte sie allerdings keinen guten Untergrund, denn in der Eile war es unmöglich gewesen die Baumstämme zu bearbeiten. Es waren zwar alle Äste entfernt worden, doch die Rundungen der Stämme brachten die Reittiere immer wieder ins Rutschen. An einigen Stellen hatte man Erde auf die Brücke gestreut, um den Pferden so zu einem besseren Tritt zu verhelfen, doch diese Arbeiten waren bis zum Morgengrauen noch nicht abgeschlossen gewesen.
Der Vampir blickte auf den träge dahinfließenden, dunklen Fluß. Die Orks waren sich völlig sicher gewesen, daß die Kaiserlichen den Strom nicht überqueren konnten. »Nervös, Herr Roger?« ertönte hinter Zerwas die Stimme eines Ritters.
Der Vampir drehte sich um und musterte den Mann in der goldverzierten Rüstung, der hinter ihm ging. Den ganzen Morgen schon hatte sich dieser Ritter in beinahe aufdringlicher Art in seiner Nähe gehalten. Er gehörte zu den Tempelwachen aus Gareth, die den Praios-Geweihten Anshelm als Leibgarde begleiteten.
»Gäbe es einen Anlaß, nervös zu sein?« entgegnete der Vampir betont gelassen.
»Nun, man munkelt, daß Eure Anwesenheit Unglück bringt«, erwiderte der Ritter geheimnisvoll.
»Das wäre dann doch wohl eher das Problem meiner Begleitung.« Zerwas lächelte. Sie beide waren die letzten eines Vierertrupps. Die nächsten Reiter, die ihnen folgten, waren mehr als zehn Schritt entfernt und nur undeutlich in der Dunkelheit zu erkennen.
Vielleicht war das die Gelegenheit, einen dieser Verfluchten Praiosdiener zu seinem Gott zu schicken? Zerwas erinnerte sich wieder an den Jahrhunderte zurückliegenden Prozeß, der seine Geliebte das Leben gekostet und auch ihn beinahe auf immer in den finsteren Abgrund geführt hatte. Die Folterknechte der Inquisition hatten es verstanden, selbst ihm Qualen zu bereiten. Körperlichen Schmerz konnten sie ihm nicht zufügen, deshalb ließen sie ihn bei den Verhören seiner Geliebten beiwohnen. Hunde! Sie nannten sich die Diener des obersten Gottes, des Gottes der Gerechtigkeit, doch ausgerechnet sie waren es, die die Folter zur höchsten Perfektion gebracht hatten. Und Marcian? Dieser doppelzüngige Verräter! Wie hatte er ihm nur vertrauen können, obwohl er wußte, daß auch er ein Inquisitor war? Seine Dummheit hatte Sartassa das Leben gekostet.
»Ich wünschte, das Licht des Praios würde uns unseren Weg zeigen«, erklang es wieder in seinem Rücken. »Man sagt, das Böse vermag vor ihm nicht zu bestehen.«
»Und das glaubt Ihr?«
»Das weiß ich. Anshelm und uns, den Rittern, die ihn begleiten, ist es bestimmt, das Böse zu vernichten, das in Greifenfurt harrt. Praios hält seine schützende Hand über uns. Deshalb hat auch keiner von uns Schaden genommen, obwohl wir vorgestern alle in der vordersten Reihe geritten sind, die vom Beschuß der Orks am stärksten betroffen waren.«
»Und Ihr glaubt wirklich, daß es Euer Gott war, der Euch beschützte?«
»Was schwingt Ihr für Reden, Ritter Roger? Seid Ihr vielleicht ein Ketzer? Auch Anshelm ist schon aufgefallen, daß Ihr niemals bei den Feldgebeten zu Ehren von Praios und Rondra zugegen wart.«
In den Worten des Ordensritters klang ein Unterton, der Zerwas mißfiel. Was wußte er? Sollte Anshelm ahnen, wer sich hinter dem jungen Adeligen Roger verbarg. Er war Geweihter und mochte sich vielleicht durch ihn weniger leicht blenden lassen als gewöhnliche Sterbliche. Und dann dieser Ritter, der ihm schon den ganzen Morgen folgte. War das mehr als ein Zufall? Wurde er beobachtet?
»Was denkt Ihr denn, warum ein Ritter nicht zu einem Feldgebet erscheint?«
fragte der Vampir lauernd.
»Vielleicht, weil er die Nähe der Götter nicht ertragen kann?« Das Pferd des Ordensritters schnaubte unruhig. »Habt Ihr vielleicht etwas zu verbergen?«
Aus dem Tonfall des jungen Ritters war nicht zu erkennen, ob dies nur die Rede eines überzeugten Praiosanhängers war oder ob sich hinter den Worten mehr verbarg.
Zerwas spähte zum gegenüberliegenden Ufer. Nur ein Schiff lag noch vor ihnen. Vielleicht zwanzig Schritt, und sie hatten das westliche Ufer erreicht. Die beiden anderen Reiter ihrer Gruppe hatten ein gutes Stück Vorsprung gewonnen. Der Vampir hatte sein Pferd während des Gesprächs ein wenig langsamer gehen lassen, und die Brücke war zu schmal, als daß der Ordensritter mit seinem unruhigen Hengst an ihm hätte vorbeireiten können.
»Vielleicht solltet Ihr mit Anshelm über das reden, was Euch vom Gebet entrückt. Er ist ein guter Seelsorger, er kann Euch sicher helfen.«
»Mir kann niemand mehr helfen.« Zerwas drehte sich im Sattel um und entblößte seine Vampirzähne.
Das Pferd des Ordensritters wieherte entsetzt auf, und der Mann starrte ihn fassungslos an. Dann stieß Zerwas ein leises, bedrohliches Zischen aus, und der Hengst des Ritters stieg auf die Hinterbeine. Der Krieger verlor den Halt und stürzte aus dem Sattel. Nur sein rechter Fuß blieb im Steigbügel hängen, so daß auch das Pferd aus der Balance gerissen wurde. Verzweifelt versuchte das Tier auf den harten, glatten Baumstämmen sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dann stürzte es unendlich langsam, so als versuche eine unsichtbare Hand es zu retten, von der Schiffsbrücke. Zerwas schrie in gespieltem Entsetzen um Hilfe und schwang sich vom Pferd, um über den Rand der Brücke in die dunklen Fluten zu starren. Einen Augenblick lang glaubte er, noch einen goldenen Lichtreflex zu erkennen, dann war nichts mehr zu sehen. Allein das eiskalte Wasser würde schon reichen, einen Mann in kürzester Zeit zu töten, doch in der schweren Rüstung hätte der Ritter auch unter günstigsten Bedingungen nicht überleben können. Sein Panzer würde ihn bis zum Grund des Großen Flusses hinabziehen, genau wie Zerwas es beabsichtigt hatte.