»Nein.« Die Amazone schien nicht im mindesten beeindruckt zu sein. »Ich habe nur gehört, wie sie sich durch die Erde arbeiteten. Doch sobald sie den Durchbruch geschafft haben, werden sie uns voraus sein. Ein einziger Krieger von ihnen, der den Ausgang des halbverschütteten Tunnels bewacht, den ich erkundet habe, wird dann ausreichen, um uns aufzuhalten. Ich brauche dir ja wohl nicht zu erklären, wie leicht es ist, jemanden zu erschlagen, der vor einem auf dem Boden kriecht. Entweder wir halten die Orks auf, sobald sie den Durchbruch bis zum Tunnel geschafft haben, oder wir können aufgeben.«
Als die Amazone geendet hatte, war es eine Weile still. Es war einfach nicht von der Hand zu weisen, daß sie recht hatte.
»Dann müssen wir eben verhindern, daß die Orks durchbrechen. Wir werden sie dort erwarten und bis zurück in ihr Lager prügeln. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß wir sie besiegen.«
»Nur daß uns diesmal kein Zerwas mehr zur Seite steht«, erklang es hinter Marcian.
Der Inquisitor drehte sich um. Lancorian kam gemessenen Schrittes den Gang herab. Der Magier war außer Marcian und seinen Vertrauten der einzige, der wußte, warum der Vampir nicht mehr in die Stadt zurückgekehrt war. Seit der Inquisitor Lancorian die Fuchshöhle genommen hatte, hatte es kein freundschaftliches Wort mehr zwischen ihnen gegeben. Selbst wenn er ihm den Turm auf der Stelle zurückgeben würde, könnte es niemals mehr so wie früher zwischen ihnen sein.
»Entschuldigt, wenn ich mich ungefragt zu Wort melde.« Der Zwerg Arthag hatte sich zwischen die beiden gestellt. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden, das uns weiterhilft. Folgt mir!«
Marcian war dankbar für die Unterbrechung. Er war kurz davor gewesen, sich mit Lancorian vor allen anderen anzulegen. Solche Fehler durfte er sich nicht leisten! Er mußte dafür sorgen, daß kein Streit ausbrach! Jede Fehde schwächte die Verteidigungskraft der Stadt.
Eine Fackel in der Rechten führte Arthag sie durch den Tunnel zurück, bis kurz vor die eingeschlagene Mauer, hinter der das Purpurgewölbe lag.
»Seht ihr das?« Der Zwerg beleuchtete eine Stelle, wo die Seitenwand des Tunnels nachgegeben hatte und Geröll in den Gang gestürzt war.
»Das hier ist die Lösung unserer Probleme!« Triumphierend blickte er in die Runde, doch die anderen schienen nicht zu begreifen, was er meinte.
»In den Inschriften, die ich in Xorlosch studiert habe, hieß es: Lang und gewunden ist der Weg, den Krieger und Häuptlinge gehen, doch gerade und kurz die Strecke, die den Priester zum Blutgott führt. Nun seht euch den Gang an, durch den wir zurückgekommen sind! Statt gerade unter den Hügel zu führen, beschreibt er einen weiten Bogen. Ja, es sieht sogar ganz so aus, als würde er sich vom Platz der Sonne entfernen. Bis heute waren mir die verschlüsselten Zeilen, die meine Vorfahren niedergeschrieben haben, unklar, doch jetzt begreife ich endlich, was sie damit meinten. Es gibt zwei Wege zu dem verborgenen Kultplatz. Der Text ist keine Metapher auf das Leben, sondern eine konkrete Beschreibung dieser Tunnelanlage. Lang und gewunden, damit ist der Weg gemeint, den wir soeben beschritten haben. Entweder beschreibt dieser Tunnel einen großen Kreis und trifft schließlich auf den Kultplatz, oder er bildet sogar mehrere konzentrische Spiralen. Der zweite Gang aber führt auf kürzestem Wege zum Ziel. Und genau vor diesem Gang stehen wir jetzt. Ich bin sicher, wenn wir das Geröll hier beiseite geräumt haben, finden wir dahinter einen weiteren Tunnel.«
»Bringt mehr Fackeln«, befahl Marcian. Auch wenn die Worte des Zwergs schlüssig klangen, konnte er beim besten Willen kein Anzeichen dafür ausmachen, daß sich hinter dem Geröll ein Tunnel verbarg.
Arthag hob seine Fackel in die Höhe und beleuchtete die gewölbte Decke des Tunnels. Ein großer, grauer Stein ragte dort aus dem Erdreich.
»Seht nur«, rief er aufgeregt. »Dort, die Rune! Das Zeichen des Tairach. Der Dämon mit den zwei ausgerissenen Herzen! Dieselbe Rune war auch auf der Inschriftensäule in Xorlosch eingemeißelt. Und genau darunter ist der Einsturz. Gebt mir eine Hacke!«
Marcian machte dem Zwerg Platz. Auch Himgi und seine Leute eilten Arthag zu Hilfe. Eifrig schafften sie Steine und Erde beiseite.
Nach mehr als einer halben Stunde Arbeit war deutlich zu sehen, daß an dieser Stelle ein Tunnel vom Hauptgang abzweigte, doch schien er vollständig mit Geröll angefüllt zu sein.
Fluchend warf Arthag seine Schaufel beiseite.
»Nun«, Marcian blickte ihn fragend an.
»Wir sind auf dem richtigen Weg, Kommandant. Doch Ingerimms Zorn hat diesen Tunnel gründlich zerstört. Wir brauchen Holz, um den Gang neu zu verschalen und Balken, um die Decke abzustützen, sonst werden wir nicht weiterkommen. Soviel wir auch graben, es rutscht ständig neues Geröll nach ... Mich tröstet nur, daß es die Orks mit Sicherheit auch nicht leicht haben werden. Wir konnten ja selber schon sehen, daß auch vom Hauptgang, auf den die Schwarzröcke sicher bald treffen werden, weite Strecken verschüttet sind.«
»Wie lange werdet ihr brauchen, um diesen Tunnel wieder begehbar zu machen?«
Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ist nur ein Teil des Tunnels eingestürzt, sind wir vielleicht schon heute abend im Allerheiligsten. Wenn es aber so weitergeht wie bisher, dann kann es auch noch einige Tage dauern.«
»Nun gut«, brummte Marcian. Dann blickte er in die Runde. »Keiner von euch wird ein Wort darüber verlieren, was hier unten geschieht. Wenn in der Stadt bekannt wird, daß die Orks einen Tunnel unter den Mauern hindurchgetrieben haben und daß unter dem Platz der Sonne ein Heiligtum des Tairach liegt, dann bricht eine Panik aus.«
»Was ist, wenn die Orks mehr als nur einen Tunnel gegraben haben?« Lancorian stellte die Frage, und Marcian hatte fast den Eindruck, als würde der Magier ihn lauernd ansehen.
»Wenn das der Fall ist und die Schwarzpelze dem Heiligtum schon näher sind, als wir vermuten, dann haben uns die Götter verlassen.«
»Welch pathetische Worte.« Lancorian warf Marcian einen vieldeutigen Blick zu. »Was mich angeht, so hast du mein Wort, daß niemand in der Stadt erfahren wird, was hier vor sich geht.« Damit wandte sich der Zauberer um und stieg durch die eingeschlagene Mauer ins Purpurgewölbe zurück, daß einst der exotische Mittelpunkt seines Freudenhauses gewesen war.
Marcian blickte ihm nachdenklich hinterher. Der Tonfall, mit dem der Zauberer die letzten Worte ausgesprochen hatte, verwirrte ihn. War das nur eine Anspielung auf das hinterhältige Versprechen, daß er selber vor Wochen Zerwas gegeben hatte, oder bedeuteten die Worte mehr?
»Noch etwas.« Lancorian hatte seinen Kopf noch einmal durch die Maueröffnung gesteckt. »Diesen Runenstein könnt ihr nun ruhig beiseite räumen. Der Schutzzauber, der einmal auf den Gängen der Orks gelegen hat, ist nun gebrochen. Was immer man damit gefangen halten wollte, kann diese Gewölbe nun verlassen.«
2
Oberst von Blautann hob den Arm und zügelte sein Pferd. »Halt«, rief er mit lauter Stimme. »Junker, laßt die Reiter dort am Waldrand ein Nachtlager aufschlagen und schickt einige erfahrene Krieger auf Wache.«
»Jawohl, Oberst Alrik!« Der bärtige Mann wendete sein Pferd und brüllte eine Reihe von Befehlen.
»Mich wundert, daß wir auf gar keine Schwarzpelze mehr stoßen.« Alrik drehte sich zu der Reiterin an seiner Linken.
»Ja, ungewöhnlich«, antwortete er knapp.
Andra stand in ihren Steigbügeln und blickte den Fluß hinauf. In der hereinbrechenden Dämmerung wurde die Sicht schnell schlechter. »Wochenlang haben wir uns fast täglich Scharmützel geliefert, und jetzt findet man von Whassois Schergen nicht mehr die geringste Spur.«
»Vielleicht haben sie aufgegeben und sich in ihre Winterlager zurückgezogen. Bei dem Wetter ist das ja wohl das vernünftigste, was man machen kann.«
Alrik lachte. »Ich hatte dich gewarnt! Tut es dir jetzt leid, mit mir gekommen zu sein?«
»Mir tut leid, daß man mit dir kein vernünftiges Leben führen kann. Was hatte ich denn für eine Wahl. Entweder in Ferdok bleiben und mich dort zu Tode zu langweilen, oder mit dir durch diesen Eisregen zu reiten. Ich kann dir nur sagen, mich wundert es nicht, wenn man bei diesem Wetter keinen Ork mehr sieht. Mir scheint, die sind vernünftiger als kaiserliche Kavalleristen.«