Schauer von Schmerz durchliefen Zerwas’ Körper. Verzweifelt wendete er sein Pferd, doch um ihn hatten Ordensritter einen weiten Kreis gebildet. Er brauchte das Schwert. Nur die Waffe allein könnte ihn retten. Sein Arm begann wieder zu bluten. Seine Kräfte wichen von ihm, sogar das Licht der Sonne, gegen das er immer gefeit gewesen war, brannte jetzt schmerzhaft auf seiner Haut.
Verzweifelt ließ Zerwas sein Pferd steigen. Die Hufe des Hengstes schmetterten gegen das Pferd eines Ordensritters, und beide Reiter stürzten zu Boden.
»O allmächtiger Praios, tilge dieses Übel vom Angesicht Deres!« erklang Anshelms Stimme.
Zerwas war als erster wieder auf den Beinen und taumelte durch den hohen Schnee. Die Reiter folgten ihm. Schon hatten ihn einige überholt. In wenigen Augenblicken wäre er wieder in einem Kreis gefangen.
Sie würden ihn gnadenlos niedermachen, wenn seine Kräfte weiter von ihm wichen.
Noch immer ertönte der Singsang des Praiosdieners. Wie glühende Nadeln stießen die Worte nach ihm. Bohrten sich in sein Hirn, verwirrten seinen Verstand. Doch da war noch eine andere Stimme.
»Hier bin ich. Greif in den Schnee.«
Zerwas warf sich auf die Knie. Das Sonnenlicht hatte ihn fast blind gemacht. Wie besessen durchwühlte er den eisigen Schnee. Ein schwerer Schlag traf ihn von hinten, und er stürzte nach vorn. Im selben Moment ertastete er etwas Vertrautes. Seulsaslintan! Mit einem gellenden Schrei riß er die Waffe hoch.
Jetzt konnte er auch wieder sehen. Seine Angreifer waren ein wenig zurückgewichen. Einige Pferde scheuten, und die Ritter hatten alle Mühe, die Tiere in ihrer Gewalt zu halten.
Zerwas preßte das Heft des Schwertes an seine Stirn. »Gib mir Kraft«, murmelte er mit spröden Lippen. Noch immer hing sein rechter Arm kraftlos herab.
»Tötet den Dämon, Praios will es so!« rief Anshelm.
Der Vampir spürte, wie er sich zu verändern begann. Sein Leib begann zu schwellen. Die Riemen des Brustpanzers, der ihn in der Gestalt Rogers geschützt hatte, war zerrissen und der Küraß fiel in den Schnee.
»Los, tötet ihn!« Anshelm trieb sein Pferd näher.
Alles Menschliche war nun aus den Zügen des Vampirs verschwunden. Sein Rücken platzte auf und mächtige rote Lederschwingen wölbten sich über seinen Schultern.
Anshelms Pferd bäumte sich auf und wieherte in Panik.
Mit der Linken führte der Vampir einen Schwerthieb gegen den Hengst des Geweihten. Die Klinge trennte dem Tier beide Vorderhufe ab.
Noch immer fühlte sich Zerwas schwach. Irgend etwas schützte Anshelm und verhinderte, daß der Vampir seine vollen Kräfte wiedererlangte. Die Ordensritter sprangen von ihren Pferden und eilten dem Praios-Geweihten zu Hilfe, dessen Pferd zusammengebrochen war. Mit einem Bein war Anshelm unter dem Leib des Hengstes eingeklemmt.
Zerwas wich ein Stück zurück und entfaltete seine Flügel. Es war Zeit zu gehen. Er würde wiederkommen, wenn er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war.
Seine Gedanken tasteten nach dem Geweihten. Er sollte nicht glauben, schon über ihn triumphiert zu haben.
»Fürchte den Tag, an dem du mich wiedersiehst, Anshelm! Dann werde ich dich zu meinem Diener machen und auf immer in den Schlund der Finsternis stürzen.«
Mit einem gellenden Schrei stieß sich Zerwas vom Boden ab.
Es bereitete ihm mehr Mühe als sonst, an Höhe zu gewinnen.
Tief unter ihm tobte der Kampf um das Lager der Orks.
Der Prinz stürmte als einer der ersten auf die Erdschanze mit den Geschützen.
Der Vampir drehte eine weite Schleife und flog dann nach Norden.
Das erste was Sanin sah, waren leuchtende Öllampen, die von einer hölzernen Decke hingen. Dann drang ein vielstimmiges Stöhnen in sein Bewußtsein.
Der Admiral versuchte, sich aufzurichten, doch seine Glieder waren wie taub.
»Für Euch ist die Schlacht entschieden, Admiral, Ihr bleibt besser liegen.«
Die Stimme erklang irgendwo in seinem Rücken. Sanin versuchte, den Kopf zu drehen, um zu erkennen, wer mit ihm sprach. Langsam wurde ihm bewußt, wo er war. Er lag in einem schmalen Feldbett. Eine dünne Decke mit dunklen Flecken reichte ihm bis zur Brust. Er befand sich in der Kammer der Schiffsheilerin.
Ein Mann begann zu schreien. Abgehackte Worte drangen an sein Ohr.
»... gebt ihm mehr Branntwein ... festhalten ... das Beißholz ...«
Ein sägendes Geräusch war zu hören und dann wieder Schreie.
»Steck ihm das Holz in den Mund, sonst beißt er sich noch die Zunge ab.«
Sanin liefen Schauer über den Rücken. Er hatte es bislang immer vermieden, während eines Gefechtes in eines der engen Lazarette zu kommen, in denen die Bordheiler arbeiteten. Nicht daß er Angst vor dem Tod gehabt hätte, aber der Geruch nach Blut, Schweiß und Eiter war ihm unerträglich. Er blickte zu den anderen Feldbetten. Blasse Männer und Frauen lagen mit schweißüberströmten Gesichtern dort. Einige waren bewußtlos, andere starrten vor sich hin, und manche weinten. Seine Befehle hatten sie zu dem gemacht, was sie jetzt waren. Zu Krüppeln, die, nachdem ihr Sold ausgegeben war, auf der Landstraße ihr Zuhause finden würden.
»... gebt mir jetzt ein paar Blatt Wirselkraut, um die Blutung zu stoppen. — Gut. Leg du hier den Verband an, Bador.«
Ein von blonden Locken gerahmtes Gesicht tauchte über ihm auf. »Nun, Herr Großadmiral, geht’s Euch besser?«
»Ich muß aufs Deck zurück. Wie steht die Schlacht?«
Die Heilerin blickte ihn streng an. »Für Euch ist die Schlacht vorbei. Und wie die Schlacht steht ... Schaut Euch doch einmal um. Bedenkt aber, daß wir hier nur die wirklich schweren Fälle haben.«
Die Heilerin hatte ihm bei ihren Worten unter die Arme gegriffen, und Sanin auf seinem Lager aufgerichtet. In der Mitte der engen Schiffskabine stand ein großer, blutverschmierter Tisch, den ein bärtiger Mann mit einem schmutzigen Tuch notdürftig säuberte.
Überall drängten sich Feldbetten. Es war so eng, daß man sich kaum bewegen konnte. Männer und Frauen lagen in dem Durchgang, der auf das Oberdeck führte. Von der Decke hingen inmitten eines Gewirrs von trocknenden Kräutern und kleinen Tuchbeuteln, die die seltsamsten Gerüche verströmten, etliche Öllampen aus poliertem Messing.
Der Bärtige war mit seiner Arbeit am Tisch fertig und packte eine junge Frau, die am Boden lag. Er nahm ihren Körper auf beide Arme und trug sie quer durch den Raum, um sie in der hintersten Ecke auf einem grausigen Haufen aus verstümmelten Leibern und verrenkten Gliedern abzuladen. Der Tod hatte die Gesichter zu Masken aus klaffenden Mündern und weit aufgerissenen Augen werden lassen. Dann erkannte der Admiral das Gesicht seiner Steuerfrau. Sie hatte ihn schon begleitet, als er noch mit der Seeadler das Perlenmeer durchquerte. Sanin wandte seinen Blick ab.
»Denen war nicht mehr zu helfen. Das Hylailer Feuer hat sie erwischt. Dieses klebrige Zeug haftet an der Haut und läßt sich nicht löschen. Wußtet Ihr, daß Verbrennungen die schmerzhaftesten Wunden sind?«
Sanin hatte das Gefühl, hier unten zu ersticken. »Ich glaube, ich bin nicht schwer verletzt. Ich möchte das Bett für jemanden freimachen, der es dringender braucht.«
»Wer hier geht, bestimme immer noch ich!« versetzte die Heilerin ärgerlich. »Ihr seid gar nicht mehr in der Lage, dieses Bett zu verlassen. Ein Splitter hat eine große Ader in Eurem Bein zerrissen. Ihr habt sehr viel Blut verloren. Hört auf mich und bleibt liegen.«
Sanins Hände krampften sich um den Bettrand. »Ich muß wieder an Deck... Los, helft mir.«
Die Heilerin lächelte mitleidig. »Ihr mögt Kommandant dieser Flotte sein, aber vor meiner Tür endet Eure Macht. Solltet Ihr in der Lage sein, diesen Raum zu verlassen, dann mögt Ihr gehen, wohin Ihr wollt.«