Der Geist schien zu lächeln. »Das wird die Waffe selber zu verhindern wissen. Niemand, der sie in Händen hält, kann mehr einen Tempel betreten. Ja, er würde sogar jeden töten, der versucht, ihn dorthin zu bringen. Gib auf, Lysandra. Du wirst sterben, und mein Volk wird triumphieren. Bleib hier bei dem Feuer und warte. In ein paar Stunden wird Rrul’ghargop hier sein und dir einen schnellen Tod schenken.«
Diese Erscheinung versuchte, sie zu täuschen! Warum sonst sollte er versuchen, sie zu überreden, hier zu bleiben. Noch war nicht alles verloren. Sie mußte sich nur dazu aufraffen, von hier zu fliehen. Sie konnte ihm entkommen. Dessen war sie sich sicher.
Mühsam plagte die Amazone sich auf. Ihre Glieder schmerzten von der Kälte der Nacht.
»Wohin willst du? Willst du deine Qual noch etwas verlängern?«
Lysandra versuchte die Worte des Nachtgeschöpfes zu ignorieren. Sie nahm sich die Umhänge der Toten, plünderte die Satteltaschen und suchte sich geräuchertes Fleisch und trockenes Brot zusammen.
Die ganze Zeit über klang ihr die Stimme des Geistes in den Ohren. »Weißt du, was passieren wird, wenn du jetzt gehst und wenn es dir gelingt, Rrul’ghargop zu entkommen? Dann wird dich die Macht des Streitkolbens verändern. Am Ende wirst du nur äußerlich noch anders sein als ich. Xarvlesh ist nicht von dieser Welt, und diese Waffe besitzt Kräfte, die du dir nicht vorzustellen vermagst. Glaub mir, am Ende wirst du Tairach huldigen. Dann wirst du nach Khezzara reiten und vielleicht sogar Uigar Kai ermorden, aber nur, um dann seinen Platz einzunehmen. Vielleicht wird die Keule sogar dein Äußeres verändern, denn meine Brüder würden niemals eine Menschenfrau als Hohepriesterin dulden.«
»Schweig!« Lysandra versuchte, noch einmal nach dem Geist zu schlagen, doch wieder glitt die Waffe durch die Erscheinung hindurch, ohne den geringsten Schaden anzurichten.
»Mir kannst du nicht entkommen, und vor der Wahrheit kannst du nicht die Ohren verschließen. Meine Stimme ertönt in deinem Innern. Ich bin sogar dann bei dir, wenn du schläfst, und vermag deine Träume zu formen.«
Die Amazone begann ihr Pferd zu satteln. Leise murmelte sie ein Gebet zu Rondra, doch selbst das vermochte den Geist nicht zu bannen.
»Törichtes Menschenkind«, zischelte die Stimme. »Hast du dich noch nicht gefragt, warum du nach Nordosten reitest? Auch wenn du es nicht willst, wird dich dein Weg nach Khezzara führen. Hattest du Marcian nicht versprochen, die Waffe in die Stadt des Lichtes zu bringen? Und doch entfernst du dich mit jedem Schritt weiter von Gareth. Begreife endlich, daß dein Handeln nicht mehr deinem Willen unterliegt. Du bist in der Hand des Blutgottes, seit du Xarvlesh an dich genommen hast, und ganz egal wohin du reitest, du wirst ihm niemals mehr entkommen.«
»Ich glaube dir nicht!« Lysandra sprang in den Sattel und trieb ihren Hengst in den verschneiten Wald. Einen Augenblick war sie allein mit sich und dem Heulen des Windes im Geäst. Silbrig glänzte das Licht des Madamals auf dem Schnee und wies ihr den Weg nach Norden.
Sie würde sich niemals beugen! Den Worten der Geistergestalt zu glauben, das hieße, aufgegeben zu haben. Sie würde widerstehen, auch wenn das die schwerste Prüfung ihres Lebens war. Doch am Ende würde sie die Gnade Rondras empfangen.
Kurz vor Morgengrauen fand Lysandra die Leiche Moverts. Er lag mitten auf einem weiten Feld. Ein Pfeil hatte ihn im Nacken getroffen. Das Blut, das aus der Wunde getreten war, war bereits gefroren.
Sie mußte sich im Wald verirrt haben, dachte Lysandra. Anders war es nicht zu erklären, daß Movert zu Fuß viel weiter gekommen war, als sie mit dem Pferd.
Von seinen Mördern war weit und breit nichts zu sehen. Doch hatte sie das Gefühl, daß sie ganz in der Nähe waren. Sie wurde gehetzt, wie ein Rudel Wölfe ihre Beute hetzten.
»Gib auf Lysandra«, erklang die Geisterstimme. »Wenn du jetzt aufgibst, hast du vielleicht noch das Glück, so zu sterben wie dein Kamerad. Entscheidest du dich, Xarvlesh zu behalten, wirst du eine von uns. Du solltest dich sehen. Das Blut deiner Gefährten klebt noch an deinen Kleidern. Die Menschen werden ihre Türen vor dir verschließen. Haß und Verzweiflung haben dein Gesicht entstellt.«
Lysandra stieg wieder auf ihr Pferd und versuchte der Stimme zu entkommen. Vergebens!
»Nimmst du dir dein Leben«, klang es in ihren Ohren, »bekommen deine Verfolger die Waffe. Es gibt keinen Ort hier in der Wildnis, wo du sie vor uns verstecken könntest. Rrul’ghargop würde Xarvlesh selbst vom Grund eines Sees holen.«
Es begann zu schneien. Gnadenlos hieb die Amazone dem Hengst ihre Sporen in die Flanken. Sie wollte fort. Weg von dieser Stimme. Ihre Verfolger hinter sich lassen. Allein sein.
12
Marcian lehnte an der Brüstung des Bergfrieds und blickte über die Stadt. Fast alles war an die Orks verlorengegangen. Nur die Bastionen um den Rondra-Tempel und das Quartier der Stadtwachen wurden noch verteidigt. Schon vor drei Tagen waren die meisten Bürger in die Garnison geflohen, doch obwohl die Festung des Markgrafen Shazar Platz für mehr als dreihundert Soldaten und Bedienstete bot, war sie jetzt hoffnungslos überbelegt. Mehr als tausend Männer und Frauen waren zwischen den Mauern eingepfercht. In der Stadt mochten vielleicht fünfhundert zurückgeblieben sein. Aber sie waren von der Garnison abgeschnitten. Lange würden sie den Orks nicht mehr standhalten.
Darrag führte das Kommando über die Kämpfer beim Rondra-Tempel.
Marcian versuchte zu erkennen, ob die Tempelmauern wieder bestürmt wurden. Doch schienen die Waffen im Moment noch zu ruhen.
Überhaupt war es heute ruhiger als in den letzten drei Tagen. Ganz so als bereiteten die Orks etwas vor. Aber was?
Der Inquisitor ging an den beiden Wachtposten vorbei, um den Fluß hinab zu blicken. Seit Wochen warteten sie auf die Entsatzflotte. Ihre Lebensmittel reichten noch für ein paar Tage. Was sollte er tun, wenn das letzte trockene Brot verteilt war? Einfach aufgeben? Den Bürgern erklären, daß all ihre Verwandten und Freunde vergebens ihr Leben geopfert hatten? Vielleicht würden die Orks Gnade walten lassen, wenn er sich mit den letzten noch lebenden Offizieren stellte.
Doch das war Unsinn. Er brauchte nur auf die Straßen vor dem Tor der Garnison zu blicken, um zu sehen, was mit denen geschah, die den Schwarzpelzen in die Hände fielen. Gepfählt hatten sie die wenigen Gefangenen, die den Kampf in den Straßen der Stadt überlebt hatten. Männer, Frauen, Kinder, Greise. Sie machten keinen Unterschied mehr. Zu oft hatte er das Angebot abgelehnt, die Stadt zu übergeben. Jetzt würde es keinen ehrenhaften Abzug mehr geben, wie ihn Sharraz Garthai vor Monaten einmal angeboten hatte.
Die Orks wußten, daß sie gewinnen würden, und daß nur ein Wunder ihnen noch den Sieg nehmen konnte. Doch Wunder hatte es bislang für Greifenfurt nicht gegeben.
Mehr als eine Meile konnte er den Fluß hinab sehen, doch es tauchten keine Segel am Horizont auf.
Die Breite begann an den Ufern zuzufrieren. Jeden Tag wurde es kälter. Noch ein paar Frostnächte, und eines Morgens würde der Fluß ganz unter dem Eis verschwunden sein. Dann waren die Wassergräben kein Schutz mehr für die Garnison. Aber so lange würden sie ohnehin nicht mehr zu leben haben.
Marcian wandte sich um, öffnete die schwere Falltür und stieg die Wendeltreppe hinab, um Himgi zu besuchen. Die Therbuniten hatten sich an seinem Bein zu schaffen gemacht und noch ein Stück vom Knochen abgesägt. Danach hatte den Zwergenhauptmann ein schweres Fieber befallen.
Vielleicht sollte er Himgi seine Suppe schenken? Die Rationen der Kranken waren viel zu klein, um sie wieder auf die Beine zu bringen. Immer mehr starben jetzt schon an leichten Verletzungen. Der Hunger, die Krankheiten und dann auch noch eine Wunde, das war zuviel. Aber Himgi sollte leben!
»Warum wirst du mit deiner Arbeit nicht fertig, alter Mann?« Gamba spielte unruhig mit einem Lederriemen und beobachtete den Alchimisten, wie er Pulver mischte und dann in ein Faß mit einer übel stinkenden Flüssigkeit einrührte.