Vielleicht würde Sharraz sich damit zufriedengeben, wenn er ihn bekam. Welchen Nutzen brachte es dem Ork schon, alle Bürger umzubringen, die sich hinter die Mauern der Garnison zurückgezogen hatten?
Marcian zog an dem Lederriemen, den er um den Hals trug, und zerrte die Greifenfeder unter seinem Brustpanzer hervor, die ihm Baron Dexter Nemrod vor langen Monaten zum Abschied geschenkt hatte. Mattgoldene Einsprengsel schimmerten auf der braunen Flaumfeder. Dieser so unscheinbare Talisman hatte ihn vor den Angriffen des Vampirs gerettet. Doch auch diese kostbare Reliquie vermochte keine wunderbare Wendung herbeizuführen.
Der Greif war das Symbol der Macht des Kaiserreichs. Auch alle Inquisitoren trugen das Zeichen des Greifen auf ihren Siegelringen. Die mächtigen Fabeltiere standen für Gerechtigkeit und galten als Sendboten des Praios, doch wo waren sie jetzt? Sie würden den Untergang der Stadt bestimmt nicht verhindern. Vielleicht waren die Götter der Orks sogar mächtiger, als Praios und seine Brüder und Schwestern?
Wie konnte er es wagen so etwas zu denken? Das war Ketzerei! Ja, ein anderes Wort gab es dafür nicht. Marcian lächelte bitter. Ein Inquisitor, der sich der Ketzerei ergab. Wie weit war es mit ihm gekommen. Vielleicht war er ja der Grund dafür, daß keine Hilfe eintraf? Vielleicht strafte Praios ihn, weil er seinen Glauben verloren hatte?
Nun, es war vorbei. Er würde seinen Zweifeln und seinem Leben ein Ende setzen. Der Inquisitor griff nach der weißen Fahne und öffnete dann die Falltür, unter der die Treppe zum Turmplateau lag. Der Gedanke bald tot zu sein, war wie eine Befreiung. Alles erschien ihm plötzlich viel leichter. Der Morgenhimmel, die grauen Mauern des Bergfrieds, sogar die in Lumpen gehüllten Gestalten auf dem Hof, alles erstrahlte jetzt, wo er es ein letztes Mal betrachtete, in einer ganz eigenen, fast göttlichen Schönheit. Vom Arsenalturm erklang ein Horn.
Dann war noch ein zweites Horn zu hören und laute Rufe.
Marcian ließ die Falltür wieder los und ging zur Brustwehr. Unten im Hof drängten die Menschen zu den Treppen, die zur Flußmauer führten. Überall auf den Zinnen standen Bürger und Soldaten, die ihre Mützen und Hüte schwenkten und dabei immer ausgelassener schrien.
Die aufgehende Sonne hatte die Dunstschwaden über dem Fluß in ein zartes Licht getaucht, und aus diesem Leuchten aus Rot und Gold tauchten Segel auf. Erst eines, dann zwei und dann waren mehr als ein Dutzend zu sehen.
Der Prinz hatte doch noch Wort gehalten. Der Entsatz rückte an. Es war geschafft! Die Belagerung war zu Ende.
Marcian fiel auf die Knie und betete zu Praios. Der Gott hatte ihn in der Stunde der größten Verzweiflung erhört! Es konnte kein Zufall sein, daß die Schiffe genau in diesem Augenblick erschienen waren. Jetzt, wo die Morgensonne das Land in die Farben des Praios tauchte. Fast konnte man meinen, die Flußkähne kämen direkt aus himmlischen Sphären, bemannt mit Sendboten des Gottes, um die finsteren Scharen des Sharraz Garthai zu vertreiben.
Im Burghof hatten einzelne Soldaten angefangen den Choral »O Praios, du Licht der Gerechtigkeit« zu singen. Immer mehr Menschen fielen ein, und immer lauter erklang der Lobgesang zum Himmel.
Marcian hatte sich wieder erhoben und blickte vom Turm herab. Was für ein Bild. Hunderte von Soldaten und Bürger drängten sich jetzt auf den Zinnen. Fast alle waren in schmutzige Lumpen gekleidet und von der monatelangen Belagerung ausgezehrt. Viele mußten einander stützen, weil sie zu schwach waren, sich noch aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten, und doch wirkten sie im Morgenlicht feierlicher, als selbst die prächtige Tempelgarde in der Stadt des Lichtes.
Marcian hob die weiße Fahne auf und schleuderte sie in weitem Bogen in den Fluß. Endlich, endlich war alles vorbei.
Die Orks hatten gar nicht erst versucht, ihre Stellungen in der Stadt gegen die frischen Truppen zu verteidigen, die mit der Flotte gekommen waren. Kampflos zogen sie in ihre Lager zurück, und in Greifenfurt begann ein dreitägiges Fest. Überall wurde Fleisch auf den Straßen gebraten, und wohin man auch kam, roch es nach frischem Brot. Zum ersten Mal seit mehr als anderthalb Jahren waren auch wieder Priester in der Stadt. In Scharen strömten die Menschen in die Tempel, um den Göttern zu danken und den Worten der Geweihten zu lauschen.
Überall auf den Stadtmauern waren bunte Fahnen aufgesteckt worden. In den Straßen drängten sich Hunderte neuer Soldaten, ganze Regimenter aus dem Süden des Kaiserreichs, die noch in keiner Schlacht gegen die Schwarzpelze gestanden hatten, aber auch zusammengewürfelte Haufen aus Abenteurern, die dem Ruf zur Befreiung Greifenfurts gefolgt und aus allen Himmelsrichtungen nach Ferdok gekommen waren, um sich der Armee des Prinzen anzuschließen.
Die Flotte war viel zu groß gewesen, um im Hafen der Stadt Platz zu finden. Etliche Schiffe waren unter den Mauern der Garnison vertäut worden oder hatten in der Mitte des Flusses Anker geworfen. Überall waren Bordwachen zurückgelassen, und die Hornissen, mit denen man selbst den kleinsten Kahn der Flotte bestückt hatte, waren drohend auf die Stellungen der Orks gerichtet.
Doch die Schwarzröcke verhielten sich ruhig. Am Morgen des dritten Tages konnte man sogar beobachten, wie Wagen mit Fässern und Säcken das Hauptlager östlich der Stadt verließen und gen Norden fuhren. Manche sahen darin das erste Zeichen zur Aufgabe. Nicht mehr die Menschen waren es, die nun einen Angriff fürchten mußten. Mit Hilfe der frischen Truppen mochte es vielleicht gelingen, die Orks aus ihren Stellungen zu vertreiben. Trotz all dieser guten Aussichten herrschte unter den Offizieren, und den neuen Hochgeweihten der Tempel, die sich am späten Nachmittag desselben Tages im großen Saal des Palas versammelt hatten, eine gedrückte Stimmung.
»Wir werden spätestens übermorgen die Stadt verlassen müssen. Länger kann der Prinz mit den Truppen, die er zurückbehalten hat, die Landzunge an der Mündung der Breite nicht verteidigen. Vermutlich haben die Orks eine erdrückende Übermacht, und wenn es ihnen gelingt, den Fluß zu überschreiten, sitzen der Prinz und seine Ritter in der Falle.« Admiral Sanin war noch immer von seinen Verletzungen geschwächt und hatte sich, während er sprach, nicht von seinem Platz erhoben.
Eigens für diese Versammlung waren entlang der Wände des Ratssaals Stühle aufgestellt worden.
»Ich plädiere dafür, alle Verwundeten sowie Kinder und Greise aus der Stadt schaffen zu lassen. Wir wissen nicht, ob wir in den nächsten Tagen den Ring der Belagerung brechen können. Bislang gibt es jedenfalls keine sichere Versorgungslinie bis zum befreiten Reichsgebiet. Das heißt, es mag noch eine Weile dauern, bis die Belagerung tatsächlich zu Ende ist. Solange können wir es uns nicht leisten, unnütze Esser zu unterhalten. Um die Kranken und Schwachen kann man sich ohnehin besser in Ferdok kümmern.«
Die Rede des Hochgeweihten Anshelm wurde mit zustimmendem Raunen quittiert. Der kleine, untersetzte Mann hatte sich, nachdem der Flotte der Durchbruch durch die Flußsperre gelungen war, gemeinsam mit einigen anderen Geweihten und Offizieren in einem kleinen Ruderboot zu den gepanzerten Schiffen bringen lassen, die die Nachhut des Konvois bildeten. Marcian paßte diese Wendung der Dinge gar nicht. Jedermann in der Stadt glaubte, der Krieg sei endlich vorbei und es könne nicht mehr lange dauern, bis die Orks ihr Lager aufgaben. Cindira, die neben ihm saß, flüsterte, daß er es nicht zulassen dürfe, daß die Bürger, die so lange tapfer gekämpft hatten, nun von den Soldaten des Prinzen aus ihrer Stadt vertrieben wurden. Anshelm redete noch immer, doch Marcian hörte ihm nicht mehr zu. Mit dem Eintreffen der Flotte hatten sich die Machtverhältnisse in der Stadt verändert. Wenn Großadmiral Rateral Sanin, Markgraf zu Windhag, anführte, auf direkten Befehl des Prinzen zu handeln, dann durfte der Inquisitor ihm nicht widersprechen, auch wenn er durch eine kaiserliche Urkunde zum Befehlshaber Greifenfurts bis zur Befreiung bestimmt war. Würde man diese Formulierung spitzfindig auslegen, konnte man ihm schon jetzt die Befehlsgewalt streitig machen. Schließlich hatten sich die Orks zurückgezogen, und es sah nicht so aus, als würden sie noch einmal zu einer ernsthaften Gefahr werden.