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Viel bedrohlicher erschien Marcian dieser Anshelm, der das Amt eines Hochgeweihten in Greifenfurt bekleiden sollte. Damit wäre Anshelm ihm an Macht gleichgestellt, ja, mochte ihn vielleicht sogar übertreffen, wenn er geschickt genug war. Sollte der Hochgeweihte intelligent genug sein, in der Stadt Erkundigungen über die vergangenen Monate einzuziehen, dann hätte Marcian wohl mit einem Inquisitionsprozeß zu rechnen, bei dem er der Ketzerei angeklagt würde.

Zum Glück wissen nur seine Agenten um die wirkliche Natur von Zerwas, dachte der Inquisitor. In der Stadt galt dieser Dämon noch immer als heldenhafter Verteidiger und vor allem als Sterblicher. Wenn Anshelm allerdings jemals herausfand, daß er gezwungen war, einen Pakt mit einem Vampir einzugehen, dann war sein Schicksal der Scheiterhaufen.

Marcian stützte sein Kinn auf die Hand und brütete finster vor sich hin. Er mußte die Wünsche der neuen Machthaber erfüllen. So mochte er vielleicht hinauszögern, daß sie nach Möglichkeiten suchten, ihn gänzlich aus seinen Ämtern zu entheben. Am liebsten würde er mit Cindira auf einem der Flußschiffe die Stadt verlassen. Doch er konnte nicht gehen. Er mußte darauf warten, daß er offiziell von seinen Aufgaben entbunden wurde. Sollte er von sich aus die Macht abgeben, würde man Nachforschungen anstellen. Niemand gab ohne Grund eine Machtposition auf!

Hoffentlich war der Krieg schnell zu Ende. Er war es müde, harte Entscheidungen zu treffen, und je länger er in der Nähe von Anshelm blieb, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, daß ihn ein übles Schicksal ereilte. Fast war es lächerlich. Eine Komödie wie von einem dieser überdrehten Theaterleute aus dem Lieblichen Feld.

Er, Marcian, hatte seine erste Liebe geopfert, um der Inquisition treu zu dienen. Und nun war er selber auf dem Weg zum Scheiterhaufen. Er hatte sein Schicksal nur um einige Jahre verzögert. Hätte er sich für Jorinde entschieden, hätte er schon damals auf den Scheiterhaufen steigen müssen. Vielleicht wäre das der bessere Weg gewesen? Zumindest hätte er ehrlicher gehandelt. Und war das nicht eine der obersten Verpflichtungen eines Inquisitors? Ehrlichkeit. Doch das Leben war zu kompliziert, um immer den graden Weg zu gehen. Es zwang einen zu Kompromissen und ...

»Wie steht Ihr dazu?« Anshelm blickte Marcian erwartungsvoll an, und auch alle anderen Augen ruhten auf ihm.

»Er will, daß du den Befehl zur Evakuierung gibst«, flüsterte Cindira ihm zu. »Sie möchten aus der Stadt eine große Garnison machen, bis der Krieg entschieden ist, und beharren darauf, daß alle Bürger gehen müssen, die nicht mehr zur Verteidigung beitragen können.«

»Mir scheint, der Herr Kommandant und Inquisitor war ein wenig abwesend.« Anshelm betrachtete ihn lauernd. Im Saal wurde es lauter. Die Bürger, die militärische Ämter bekleideten, begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln.

»Oh, sollte ich hier etwa ein Geheimnis aufgedeckt haben? War denn nicht bekannt, daß Marcian nicht allein in Diensten des Prinzen steht, sondern auch das Amt eines Inquisitors bekleidet und zu den Vertrauten des Barons Dexter Nemrod zählt?« Der Hochgeweihte verbeugte sich tief. »Es tut mir aufrichtig leid, wenn ich hier unwissentlich ein Geheimnis enthüllt habe.«

Marcian schäumte innerlich vor Wut. Hätte er nur schon früher eingelenkt! Was mochte wohl noch alles kommen? Er mußte diesem hinterhältigen Spiel ein Ende setzen, und dazu gab es nur einen Weg.

»Nun, Erhabener, Ihr habt nur meinen eigenen Absichten vorausgegriffen, was die Aufdeckung dieses Amtes angeht. Da die Stadt offensichtlich friedlicheren Zeiten entgegengeht, ist eine Geheimhaltung meiner Ämter nicht mehr notwendig. Was aber die Evakuierung angeht, so bin ich nach reiflicher Überlegung Eurer Ansicht. Wenn es den Orks tatsächlich auch weiterhin gelingen sollte, die Belagerung aufrecht zu halten, dann ist es besser, wenn alle Schwachen und Verwundeten sich an einem sicheren Ort von den Strapazen der letzten Monate erholen können. Mir ist nur noch nicht ganz klar, wann es am geschicktesten ist, die Bürger darüber in Kenntnis zu setzen.«

»Natürlich umgehend!« Sanin spielte nervös mit den Fingern an den Armlehnen seines Stuhles. »Es wird mit jedem Tag kälter. Vielleicht friert der Fluß zu. Wenn die Flotte dann immer noch vor der Stadt liegt, brauchen die verdammten Schwarzpelze nur über das Eis spazieren, um sich ein Schiff nach dem anderen zu nehmen. Man stelle sich das einmal vor! Eine Flotte von Infanteristen überrannt! Ich möchte am liebsten schon morgen die Anker lichten. Alle Ladung ist gelöscht, und so schwer kann es ja nicht sein, ein paar Zivilisten einzuschiffen.«

»Gut, ich werde alles in die Wege leiten. Ich denke, damit ist es dann auch an der Zeit auseinanderzugehen.« Marcian blickte in die Runde. Einige der Männer und Frauen musterten ihn auf unangenehme Weise. Das war wirklich geschickt von Anshelm gewesen, ihn als Inquisitor zu entlarven. Die Bürger würden sich jetzt vielleicht auf Seiten des Geweihten schlagen. Aber woher konnte dieser kleine, so harmlos aussehende Mann wissen, daß er ein Inquisitor war? Käme Anshelm im Auftrag des Barons Dexter Nemrod, hätte er ihn mit Sicherheit nicht auf diese Weise entlarvt. Zumindest stand jetzt fest, daß es zwischen ihnen beiden zu einem Machtkampf kommen würde.

Marcian war allein in seinem Turmgemach. Cindira besuchte die kleine Tochter von Darrag, um sich von ihr zu. verabschieden. Sie würde morgen zusammen mit allen anderen Kindern die Stadt verlassen.

Der Beschluß zur Evakuierung hatte für einigen Ärger gesorgt, ganz wie er es vorausgesehen hatte. Die Greifenfurter mochten nicht einsehen, warum sie nun in der Stunde der Rettung gehen sollten. Wieder einmal verfluchten sie ihn. Marcian, der grausame Tyrann, hieß es überall. Auch daß er Inquisitor war, schien schon die Runde gemacht zu haben. Nur darüber, daß er zunächst gegen die Ausweisung gewesen war, darüber sprach keiner. So war das Leben. Die Menschen kannten keine Gerechtigkeit. Allein Praios wußte um das, was in ihm vorging und was eigentlich seine Absicht war. Doch vielleicht hatte der Gott sich schon lange von ihm abgewandt? Verwunderlich wäre es nicht. Kannte Praios jede Intrige und jeden Verrat. Marcian ließ den Kopf sinken. Er hatte immer nur das Beste gewollt, und doch verstrickte er sich immer tiefer in eine Schuld, die er nicht tragen mochte. Jetzt hatte er auch noch die Evakuierung aller Kranken, Gebrechlichen und Kinder angeordnet. Müttern stand es frei, ebenfalls zu gehen, um bei ihren Kindern zu sein. Doch jedem Mann, der noch eine Waffe tragen konnte, war es verboten, die Stadt zu verlassen.

Vielleicht rettete er so auch viele Leben. Das war der einzige Gedanke, der ihm im Augenblick Trost spendete. Sollten die Kämpfe um Greifenfurt noch einmal aufflammen, dann wären zumindest alle in Sicherheit, die morgen die Stadt verlassen würden.

Es klopfte. Marcian setzte sich aufrecht in den hohen Lehnstuhl und wartete. Zu seiner Überraschung trat Anshelm ein, der Mann, den er am wenigsten zu sehen wünschte.

»Was wollt Ihr, Erhabener?«