Marcian lächelte zynisch. »Nein. Dann werden sie sagen, daß nur eine Besessene so stark sein kann, der Folter zu widerstehen, und du wirst dennoch sterben.«
Cindira begann zu schluchzen. »Ich will dich nicht verlieren ...« Ihre Hände verkrampften sich.
»Du wirst mich nicht verlieren! Verlaß die Stadt und geh nach Süden. Ich werde dich wiederfinden, wenn das hier alles vorbei ist. Man hat mich gelehrt, Leute und Dinge zu finden, die nicht gefunden werden wollen. Wie leicht wird es mir dann erst fallen, die Spur meiner Geliebten aufzunehmen.«
»Ich habe Angst. Ich will dich nicht verlassen. Ich habe das Gefühl, daß wir beide uns nie Wiedersehen werden, wenn ich der Stadt den Rücken kehre.«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten.« Marcians Hände glitten über ihre langen Haare. »Ich werde meinen Dienst bei der Inquisition aufgeben.«
»Du lügst!« Cindira stieß ihn von sich.
»Nein! Glaub mir. Ich werde den Greifenring ablegen und nur noch für dich da sein.«
»Du weißt, daß sie dich nicht gehen lassen. Wenn sie deinen Kopf fallen sehen wollen, dann wirst du ihnen nicht entkommen. Du lügst, damit ich mich rette.«
»Vertrau mir ...« Marcian hatte ihre Hand gegriffen. »Ich schwöre dir bei Praios, daß ich für dich zum Verräter werde. Bevor nicht die letzte Schlacht geschlagen ist, wird man mir nichts tun. Ich werde im Schlachtgetümmel fliehen. Man wird mich dann für tot halten ...«
»Wirklich?« Cindira standen noch immer Tränen in den Augen.
Statt einer Antwort küßte er sie. »Laß uns diese Nacht nicht streiten. Wir werden uns so lange nicht mehr sehen.«
»Mach das Feuer im Kamin an. Mir ist kalt, ganz so, als spürte ich den eisigen Atem Borons.«
»Was redest du für einen Unsinn!« Marcian warf einige Scheite in die Glut, doch wurde es kaum wärmer in dem großen Turmzimmer.
Als er sich umdrehte, konnte er sehen wie Cindira betete. Sie bemerkte seinen Blick, erhob sich und schaute ihn traurig an. Dann ließ sie ihr Kleid zu Boden gleiten und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm!«
13
Arthag hatte den ganzen Abend getrunken. Er verstand nicht, was in der Stadt vor sich ging. Warum wurden die Bürger gegen ihren Willen fortgebracht? Warum riß man Familien auseinander?
Überall hörte er, wie Marcians Name verflucht wurde. Warum mußte das geschehen? Hatten sie denn nicht gewonnen? Die Orks hatten sich doch aus der eroberten Stadt zurückgezogen, ohne daß es auch nur einen Schwertstreichs bedurft hätte. Was konnte denn dieser jämmerliche Haufen vor den Stadttoren noch tun?
Arthag wollte Antwort auf diese Fragen, und er wußte auch, wo er sie bekommen würde. Seit der Nacht vor Nyrillas Tod war er nicht mehr bei ihm gewesen. Als der Platz in der Burg so knapp wurde, daß man selbst in den Kerkern Flüchtlinge untergebracht hatte, war Uriens in eine kleine Kammer im Frauenturm geschafft worden. Angeblich schlief er tagelang, um in wachem Zustand zu schreien, als seien ihm Dämonen auf den Fersen.
Der Zwerg blieb stehen und lauschte. Nichts rührte sich auf der Treppe im Turm. Die Kammer, in der Uriens gefangen war, hatte man mit einem schweren Balken verriegelt. Dafür gab es kein Schloß. Niemand war so verrückt, sich freiwillig mit dem Wahnsinnigen einzulassen. Wozu hätte man da ein Schloß gebraucht?
Arthag kam das sehr entgegen. Mühelos stemmte er den schweren Schließbalken beiseite. Dann hob er den tönernen Krug auf, den er mitgebracht hatte. Seit die Befreier in der Stadt waren, gab es wenigstens wieder etwas zu trinken. Der starke Wein würde ihm jetzt zugute kommen. So wollte er die Zunge des Propheten lösen. Arthag horchte. Aber es war nicht das geringste in der Turmkammer zu hören. Dann öffnete er die Tür einen Spalt breit und schlüpfte hinein.
Uriens lag zusammengekauert in einem kleinen Bett. Es stank. In der Ecke stand ein Kübel, auf dem er wohl erst vor kurzem seine Notdurft verrichtet hatte.
Arthag trat vor und schüttelte den Wahnsinnigen sanft.
Uriens stöhnte. Dann drehte er sich um und blickte den Zwerge mit leeren Augen an.
»Was ...« murmelte er leise.
»Trink!« Arthag drückte dem Verrückten den Weinkrug in die Hände. Ohne weitere Fragen setzte er den Krug an die Lippen und nahm einen langen Zug. Dann gab er ihn dem Zwerg zurück.
»Na, das war doch wohl noch nicht alles«, brummte Arthag.
»Nicht trinken ... Will nichts sehen ...« Uriens streckte seine Hände weit von sich und zog eine Grimasse.
»Du bist doch ein Mann, oder? So’n guter Wein hat noch keinem geschadet.« Der Zwerg kletterte auf das Bett und packte den Uriens.
»Böse Bilder ... jagen mich ... machen mich tot.« Uriens begann mit Händen und Füßen zu strampeln, und es kostete Arthag alle Kraft, ihn festzuhalten und ihm den Krug wieder an den Mund zu setzen.
»Nicht ...« Die Stimme des Irren klang halb erstickt. »Bitte ...«
»Unsinn. Das tut doch nicht weh.« Arthag war ein wenig schwindelig. Er hatte an diesem Abend mehr als nur einen Krug Wein getrunken, und jetzt wollte er wissen, was die Zukunft brachte. Wollte wissen, was in dieser Stadt vor sich ging und warum man sich trotz des eindeutigen Sieges so verhielt, als sei jede Stunde mit einem neuen Angriff der Orks zu rechnen. Ihm reichte dieser Krieg. Er hatte ihn schon zu viel gekostet. Arthag wollte nur noch, daß ihm jemand sagte, daß Frieden sei. Dann würde er den verdammten Greifenring zurückgeben und nie mehr etwas mit Menschen zu schaffen haben.
»Trink.«
Uriens leistete fast keinen Widerstand mehr. Der schwere Wein floß aus den Mundwinkeln in Sturzbächen über seine Brust. Erst als der Krug geleert war, gab sich Arthag zufrieden. Er ließ den Propheten los, der kraftlos zurücksank. Unartikulierte Laute kamen über seine Lippen. Ein Flüstern, wie von weit her.
Der Zwerg hatte das unbestimmte Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Es schien kälter zu werden in der kleinen Kammer. Am liebsten würde er weglaufen, doch seine kurzen Beine gehorchten ihm nicht mehr.
Nein, er mußte nun durchstehen, was er begonnen hatte. »Was wird die Zukunft bringen?« fragte er mit zitternder Stimme. »Wann wird Frieden sein?«
Es war totenstill in der Kammer. Nur das Heulen des Windes um die Turmspitzen der Garnison war zu hören. Und dann mischte sich langsam ein anderer Ton dazu. Wie fernes Donnern. Ja, es klang wie Schnee, der von den Bergen stürzt und alles zerschmettert.
Unruhig blickte sich Arthag um. Was mochte der Quell dieses unheimlichen Geräuschs sein? Er war ganz allein mit Uriens. Der Irre hatte den Mund weit aufgerissen und verharrte bewegungslos auf seinem Bett. Sollte es der Rausch sein, der ihn narrte? Hatte er zuviel getrunken? Arthag fühlte sich immer unwohler.
Uriens hatte gesprochen, ohne die Lippen zu bewegen. Dem Zwerg kam es fast so vor, als sei der weit geöffnete Mund des verstümmelten Mannes wie der Eingang einer Grotte, aus deren Tiefe eine Stimme erklang. War es vielleicht gar Satinav selbst, der zu ihm sprach? Der verfluchte Frevler und Herr der Zeit.
»Was wird mit uns geschehen? Wann kehre ich in die Koschberge zurück? Wann wird endlich wieder Frieden sein?«
Statt einer Antwort wurde das Donnergrollen lauter. Er mußte der Ungewißheit entrinnen, oder er würde wahnsinnig werden!
Arthag packte den blinden Propheten am Kragen und schüttelte ihn. »Sprich! Antworte mir. Du weißt, was sein wird. Öffne dein inneres Auge, sieh in die Zukunft. Führe mich ...«
Ein Zittern durchlief Uriens. Mit einer Kraft, die er dem gebrechlichen Mann nicht zugetraut hätte, stieß er den Zwerg vom Bett. Dann umklammerte der Prophet mit beiden Händen seinen Kopf.
»Nein ...« Der Schrei ließ die Kammer erbeben. Das Gesicht des Wahnsinnigen war zu einer Grimasse des Schreckens geworden. Wieder schrie er mit gellender Stimme. »Weicht von mir! Ich will nicht sehen ... Geh weg, Verdammter.«