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Dann änderte die Stimme des Propheten ihre Tonlage, und wieder klang es, als spräche jemand in weiter Ferne. Arthag hatte die Vision einer lichtlosen, riesigen Grotte, tief in Sumus Leib. Das Bild eines Schiffes verschwamm mit dem Dunkel der Höhle.

»Sieh die Zeichen, dessen, der kommt von Osten! Wehe, wenn das Vergangene nach der Zukunft greift, denn höre, finster ist das, was im Finstren reift. Und ...«

Die Stimme war immer lauter geworden, wie das Tosen eines Sturmwindes klang sie jetzt in Arthags Ohren, um plötzlich abzubrechen, so, als habe jemand die Pforten geschlossen, aus denen ein Wissen emporquoll, das noch hinter den Schleiern der Zukunft verborgen bleiben sollte. Statt dessen tanzten nun Runen vor Arthags Augen. Verschlungene Schriftzeichen, an die er sich vage erinnerte. Er hatte sie in Xorlosch gesehen. Es waren Runen, deren Bedeutung er nicht verstanden hatte.

Jetzt schienen sie ihm mit einem unheimlichen Leben erfüllt zu sein. Wie kleine Dämonen tanzten sie vor seinen Augen, versuchten seinen Verstand auf einen Weg zu locken, den er nicht beschreiten durfte. Dazwischen erschien unscharf das Bild von Uriens, der immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand schlug.

»Laß mich nicht sehen! Verschließe das Auge ...« rief der Prophet, und seine Stimme verklang zu schrillem Geschrei.

Und wieder tanzten die Runen vor Arthags Augen. Diesmal schien sie eine kleine Gestalt anzuführen. Eine Figur, die ihre Hände hoch über den Kopf erhoben hatte und in blutroter Farbe gemalt war. Er mußte sie fangen, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.

Alrik blickte gedankenverloren auf die Schiffe, die sich unter ihm sanft in der Strömung der Breite wiegten. Andra lag in seiner Kammer und schlief, doch er konnte in dieser Nacht keine Ruhe finden. Was war nur mit der Stadt geschehen? Ihm schien es, als habe ein unseliger Geist von Greifenfurt Besitz ergriffen. Ob das damit zusammenhängen mochte, daß Marcian die versiegelte Kultkammer tief unter der Stadt hatte öffnen lassen? Der Anblick der Bürger, die jetzt Glombo Brohm folgten, hatte den jungen Offizier erschreckt. Selbst jetzt, wo wieder reichlich Lebensmittel vorhanden waren, lehnten sie es ab, mehr als nur das Nötigste zu essen. Und statt Wein tranken sie das eisige Wasser des Flusses. Noch immer zogen sie Tag für Tag in nie enden wollender Prozession durch die Stadt und riefen den Namen des Praios. Ihre nackten Rücken waren zerfurcht von den Wunden, die sie sich selbst geschlagen hatten, und ihre Kleider waren klebrig vom Blut. Waren sie in den Händen von Tairach? Hatte der Blutgott sie zu dieser bizarren Form von Frömmigkeit verführt?

Ein Schrei schreckte Alrik aus seinen Gedanken auf. Unten im Hof konnte er Wachen auf einen der Ecktürme zurennen sehen. Ein Überfall?

Alrik riß sein Schwert aus der Scheide und rannte die steile Treppe hinab, die vom Wehrgang zum Hof führte.

Als er endlich den Turm erreichte, bildeten die Männer und Frauen der Nachtwache wortlos eine Gasse, um ihn durchzulassen. Durch die weit geöffnete Tür konnte er in jene Turmkammer blicken, in der man Uriens eingekerkert hatte.

Über seinem Bett war ein großer Blutfleck an der grauen Wand. Der Irre lag mit zerschmettertem Schädel zwischen den zerwühlten Decken seines Nachtlagers. Und vor dem Bett hockte sein Mörder.

Arthag!

Doch der Zwerg schien sie nicht zu sehen. Angespannt verfolgte er etwas Unsichtbares in der Luft. Warf seinen Kopf hin und her, wie eine junge Katze, die eine Fliege jagt. Dann schnappte er mit der Faust in die Luft und murmelte: »Du entkommst mir nicht. Ich werde dich vernichten.«

Alrik fröstelte es. Es war offensichtlich, daß der Wahnsinn Greifenfurt regierte. Das mußte auch der Grund sein, warum die Orks sich zurückgezogen hatten. Es wäre nicht mehr nötig, Krieg zu führen. Die Stadt und ihre Bürger würden sich selber vernichten, so wie Arthag den Propheten in seinem Wahn ermordet hatte, würden sich über kurz oder lang alle gegenseitig an die Kehle gehen.

Aber er würde dagegen angehen. Er durfte sich nur nicht treiben lassen. Er durfte sich nicht aufgeben!

Der junge Oberst versuchte sich gegen das abzuschirmen, was er sah. Pflichterfüllung, das sollte sein Schild sein. Er würde sich dem Wahnsinn um ihn herum nicht öffnen.

»Schafft den Toten aus der Kammer!« befahl er mit gepreßter Stimme.

»Dann entwaffnet den Zwerg und sperrt ihn an Stelle von Uriens hier ein.«

14

Marcian hatte das Dach des Palas erklommen, um zuzusehen, wie die letzten Schiffe den kleinen Hafen der Stadt verließen. Noch am Morgen hatte er mit Cindira gestritten, denn über Nacht war es ihr in den Sinn gekommen, doch lieber in der Stadt zu bleiben. Sie wolle sich verstecken, hatte sie ihm vorgesponnen. Es hatte ihn seine ganze Überredungskunst gekostet, sie dazu zu bringen, doch noch an Bord eines der Schiffe zu gehen.

»Ich gehe nur, weil es dein Wunsch ist«, waren ihre letzten Worte an ihn gewesen.

Marcian hatte einen Kloß im Hals, als er zu dem Schiff blickte, das nun am Ende des langen Konvois den Fluß hinabglitt. Cindira stand am Heck und blickte zur Stadt zurück. Ein dichter Pelzumhang lag um ihre Schultern, und ihr langes, schwarzes Haar flatterte schimmernd wie Rabenflügel im Wind.

Rahja allein wußte, wie schwer es ihm gefallen war, sich von ihr zu trennen. Bis zuletzt hatte sein Herz dagegen rebelliert. Wie gerne wäre er auf ihren Vorschlag eingegangen, sie bei sich zu behalten. Aber sie wäre in die Hände der Inquisition gefallen, wäre sie noch in der Stadt gewesen, wenn Greifenfurt befreit wurde. Nein, es reichte, wenn ihn allein dieses Schicksal ereilte. Er hatte ihr alles Gold gegeben, daß er besaß. Sie solle ihnen beiden damit ein Heim schaffen, hatte er ihr gesagt.

Marcian schluckte. Würde er sie jemals Wiedersehen?

»Jorinde, ich liebe dich! Bald sind wir wieder zusammen!« erklang eine dunkle Männerstimme.

Der Inquisitor zuckte zusammen. Welcher Dämon quälte ihn da? Wer kannte Jorinde, die er einst verraten hatte? Seine erste große Liebe ... Neben ihm stand Darrag und winkte mit beiden Armen. Doch welch bösen Streich spielte er ihm? Warum blickte er zu Cindira und rief Jorindes Namen? Und das jetzt, wo sie Abschied nahmen ...

Marcian packte den Schmied grob am Arm. »Was für ein Spiel treibst du mit mir?« Die Zornesröte war dem Inquisitor ins Gesicht gestiegen. Darrag blickte ihn fassungslos an. »Was meinst du?«

»Woher kennst du diesen Namen?«

Darrag riß sich los. »Ich nehme Abschied von meiner Tochter«, brummte er böse. »Sie steht dort unten auf dem Schiff, wie du es befohlen hast. Sieh doch hinab. Sie steht genau neben Cindira.«

Marcian klammerte sich an die Brüstung. Ihm war schwindelig. Welch seltsamen Weg nahm sein Schicksal? Jorinde und Cindira vereint ... Jetzt erst bemerkte er das kleine Mädchen. Cindira hatte es auf ihre Arme genommen, damit es besser sehen konnte. Jorinde winkte ihm zu.

Marcian hatte nie nach dem Namen von Darrags Tochter gefragt. Er hatte nach gar keinem Namen mehr in den letzten Monaten gefragt. Er wollte die Toten nicht kennen. Es reichte, die vertrauten Gesichter zu sehen. Er hatte nicht auch noch die Namen derer wissen wollen, die im Siechenhaus gestorben waren.

Der Inquisitor atmete tief ein. Er durfte diesen Gedanken keinen Raum lassen. Er mußte in diesem Augenblick leben und alles Vergangene hinter sich lassen.

In der Nacht war frischer Schnee gefallen und kleidete die Hügellandschaft entlang des Flusses in ein strahlend weißes Gewand. Der Himmel war klar. Nicht eine Wolke stand am Himmel, und doch trieben dunkle Schatten mit dem Wasser. An einigen Stellen waren schwarze Flecken an den Ufern zu sehen: Unrat, den der Fluß aus dem Norden mit sich gebracht hatte. Die vereisten Uferstreifen zeigten an, wie das Hochwasser langsam zurückging. Gleich flachen Dächern standen dünne Eisschollen von der Böschung ab, während der Wasserpegel schon um einen halben Schritt tiefer gesunken war.

Marcian hob den Arm und winkte. Der Südwind fegte ihm ins Gesicht. Obwohl das Praiosgestirn hoch am Himmel stand, war es eisig kalt. Keines der Schiffe hatte Segel gesetzt. Schwerfällig trieben die Lastkähne mit der Strömung. Immer mehr dunkle Flecken glitten den Strom hinab. Die kleinen Wellen trieben ihr Spiel mit ihnen, zogen sie in die Länge, rissen sie auseinander oder fügten verschiedene Flecken wieder zusammen. Der ganze Fluß schien damit bedeckt zu sein, und die Strömung trieb sie zwischen den Schiffen hindurch. Ein würziger Duft lag in der Luft. Was mochte das sein? Irgendwie war Marcian der Geruch vertraut, doch wußte er nicht zu sagen woher.