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Lysandra begann wieder zu laufen.

»Steh!« erklang hinter ihr eine Stimme.

Im Laufen drehte sich die Amazone um. Ein hochgewachsener Ork auf einem schwarzen Pony hatte das Ufer erreicht. Ein Amulett blinkte golden auf seiner Brust.

»Komm zurück!«

Der Krieger hatte seine Faust um das Amulett gelegt. Seine Worte waren seltsam eindringlich. Nur mühsam gelang es Lysandra, ihren Blick von ihm zu lösen. Jeder Schritt fiel ihr schwerer. Es schien, als hielte sie eine fremde Macht gefangen und wollte sie dazu zwingen, ans Ufer zurückzukehren.

»Komm!« ertönte wieder die befehlsgewohnte, rauhe Stimme.

»Gib auf«, wisperte auch der unselige Geist, der immer um sie gewesen war, seitdem sie ihre Gefährten erschlagen hatte. »Du hast verloren, wie ich es dir gesagt habe. Gib auf und wähle einen leichten Tod.«

Lysandra faßte Xarvlesh fester. Der dunkle Streitkolben mit seinen langen, roten Dornen, die wie von innen zu glühen schienen, verlieh ihr neue Kraft. Sie brauchte ihn nur anzuschauen, und alle Müdigkeit wich von ihr. In den letzten zwei Tagen hatte sie nicht eine Stunde geschlafen. Doch wann immer sie das Glühen der Dornen betrachtete, fühlte sie sich erfrischt. Sogar die Stimme des Geistes verschwand dann. Sie würde es den elenden Schwarzpelzen schon zeigen. Sie würde nach Yeshinna gehen, und wenn ihre Gefährtinnen erst einmal Tairach folgten, dann würde es nicht lange dauern, bis die Orks vom Antlitz Deres getilgt waren.

Lysandra erschrak. Was hatte sie da gedacht? Sie wollte die Amazonen auf Burg Yeshinna zu Tairach bekehren? Das mußte die Schwäche sein. Sie verwirrte ihre Sinne. Sie würde Xarvlesh in den Rondra-Tempel von Yeshinna bringen. Dort wäre die verfluchte Waffe für immer vor den Orks sicher.

Lysandra stolperte und stürzte auf das Eis. Ein Pfeil zischte über sie hinweg.

Die Amazone lächelte und drehte sich um. Rondra beschützte sie! Der große Orkkrieger war mittlerweile von seinem Pony gestiegen und versuchte sie mit seinem Bogen niederzustrecken. Mehr als ein Dutzend weiterer Orks standen schon am Ufer, doch keiner wagte sich auf das Eis des Sees.

Wieder hatte der Anführer einen Pfeil auf sie abgeschossen. Ohne daß sie etwas dazu tat, zuckte ihr Arm hoch, und die Keule schlug mit einer blitzschnellen Bewegung das Geschoß aus der Luft.

Für einen Moment starrte Lysandra sprachlos auf die Waffe.

»Xarvlesh verteidigt dich. Der Fleischreißer schützt dein Leben. Du sollst seine neue Dienerin werden. Du trägst die Waffe schon zu lange. Nun ruht das Auge Tairachs auf dir. Gib Rrul’ghargop die Keule, oder du wirst auf immer verdammt sein, denn ...« Die Stimme des Geistes wurde immer schwächer.

Lysandra raffte sich auf und schritt weiter auf das Eis hinauf. Bald würde die Sonne im Westen versinken. Der Himmel über dem See war mit violetten Wolken verhangen. Es würde bald einen Schneesturm geben. Lysandra zog ihren Umhang enger um die Schultern und preßte Xarvlesh an ihre Brust. Dabei streifte sie kurz mit der Waffe ihr Kinn. Ein Schauer wohliger Wärme durchlief sie, und für einen kurzen Moment sah sie ein eigenartiges Bild vor sich. Sie stand mitten im Eis und hatte all ihre Kleider abgelegt. Zu ihren Füßen lag der Anführer der Orks. Sie hatte ihn erschlagen und zeichnete nun mit der blutverschmierten Waffe seltsame Muster auf ihren Leib.

Die Amazone biß sich auf die Lippen, und der Schmerz vertrieb das Schrekkensbild. Dann löste sie die löwenköpfige Fibel an ihrer Schulter und schlug den Streitkolben in ihren Umhang ein. Wie Nadeln stachen die Eiskristalle, die der Wind vor sich hintrieb in ihr Gesicht. Es wurde jetzt immer schneller dunkler. Lysandra drehte sich um.

Das Ufer war schon fast in der Abenddämmerung verschwunden. Einer der Orks war ihr auf das Eis gefolgt. Doch mehr als zweihundert Schritt trennten sie. Sobald es richtig dunkel war, würde sie einige Haken schlagen. Dann hätte er schnell ihre Spur verloren. Fast verspürte sie Anerkennung für den Anführer der Schwarzröcke. Sie selbst hatte den ganzen Tag lang überlegt, ob sie sich auf das Eis des Sees hinauswagen sollte. Die Geschichten, die man sich über den Neunaugensee erzählte, waren Legion.

Grünhaarige Klammermolche sollten an seinem Ufer leben und man sagte, daß es in dem Sumpf von Irrlichtern, Nachtalpen und Geistern nur so wimmelte. Lysandra lächelte. An die Gegenwart von Geistern war sie nun ja schon gewohnt.

Allein die Berichte über eine riesige Seeschlange, die in den Tiefen des bodenlosen Gewässers hausen sollte, beunruhigten sie wirklich. Mit allem anderen würde sie schon fertig werden. Und sollte sie hier auf dem See sterben, dann würde die Waffe mit ihr im Wasser verschwinden. Am Grund des Sees war sie genauso sicher wie in irgendeinem Tempel.

Aber wenn der Ork sie fand? Lysandra schob den Gedanken beiseite. Sie würde nicht sterben!

Es war jetzt völlig finster, und das Schneetreiben wurde immer dichter. Ihre Füße fühlten sich an wie Eisklumpen. Der Frost biß durch ihre ledernen Handschuhe. Jeder Schritt war unendlich mühsam geworden. Am liebsten würde sie sich für einen Augenblick hinsetzen und ausruhen. Doch das wäre das Ende. Würde sie erst einmal sitzen, hätte sie nicht mehr die Kraft sich zu erheben. Sie würde erfrieren.

»Hol Xarvlesh aus deinem Umhang! Zieh deine Handschuhe aus und streich über die Waffe. Sie wird dich wärmen und vor dem Tod bewahren. Oder stirb, dann werde ich Rrul’ghargop zu dir fuhren, und er wird die Waffe in seinen Besitz nehmen. Erkenne endlich, daß Tairach auf jeden Fall triumphieren wird, du dummes Weib.«

Lysandra fluchte leise. Sie würde ihre linke Hand dafür geben, der Stimme des Geistes zu entkommen. Jetzt, wo die Sonne untergegangen war, hatte die Stimme sich wieder erhoben, und manchmal konnte sie ein Abbild des Hohepriesters neben sich sehen.

Lysandra stolperte und rutschte. Der eisige Panzer des Sees mußte in diesem Winter schon mehrfach aufgebrochen sein. Wind und Wellen hatten die treibenden Eisschollen übereinandergeschoben und eine bizarre Landschaft geformt. Vielleicht wanderte die Amazone auch geradewegs auf eine dieser Bruchstellen zu? In dem Schneetreiben konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Jeder Schritt mochte den Tod bedeuten. So wie sie vor Momenten gestürzt war, konnte sie auch jeden Augenblick in eine tiefe Spalte abrutschen und ins Wasser fallen.

»Bleib doch einfach liegen«, flüsterte der Geist, »dann kann dir nichts passieren.«

Die Amazone mühte sich auf. Sie würde niemals auf das hören, was ihr die Erscheinung zuraunte. Sie würde niemals aufgeben. Und wenn sie den See hinter sich gelassen hatte, würde sie geradewegs nach Yeshinna gehen und einen Tairachkult gründen ...

Bei allen Göttern! Wurde die Macht, die Xarvlesh über sie hatte, wirklich immer stärker? Wie konnte sie nur so etwas denken!

Sie würde anfangen, die Litaneien über die Taten der Heiligen zu rezitieren. Jahrelang hatte sie auf Burg Yeshinna diese Texte auswendig lernen müssen, bis sie sie schließlich stundenlang aufsagen konnte, ohne auch nur ein einziges Wort dabei zu vertauschen.

Sie würde mit Thalionmel beginnen. Sie galt als die Schirmherrin gegen übermächtige Feinde.

Die Zähne klapperten ihr vor Kälte, und stockend begann sie zu rezitieren:

»Es begab sich zu jener Zeit, da Vinsalt sich gegen das Kaiserreich erhoben hatte und sich den Söhnen von Keft, der falsche Gott Rastullah offenbarte, daß Scheich Tugruk Pascha in seiner Wüstenstadt die neun Sippen vereinte, um sie zu einem Heerzug nach Neetha zu führen. Dort herrschte gar großer Jammer, denn alle Schwerter der Stadt waren gen Norden gezogen, um mit dem Heerbann gegen die Kaiserlichen zu ziehen. Allein Thalionmel vermochte dem Ruf der Waffen nicht zu folgen, da ein starkes Fieber sie niedergeworfen hatte, als die Streiter die Stadt verließen, und so war sie die einzige, die den Söhnen der Wüste auf der Chababbrücke vor Neetha entgegentrat und mutig deren Anführer gebot, das Königreich Vinsalt wieder zu verlassen. Doch die wilden Reiter lachten über die Löwin und bestürmten die Brücke ...«