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Lysandra wußte nicht, wie viele Stunden sie durch die Nacht geirrt war. Soeben hatte sie die Litanei von Geron dem Einhändigen, dem Schutzheiligen gegen Ungeheuer beendet. Immer wütender brauste der Sturm gegen sie an, als wollte er verhindern, daß sie weiterging.

»Du brauchst nur Xarvlesh in deine bloßen Hände zu nehmen, und alle Erschöpfung wird von dir weichen«, flüsterte der Geist.

Lysandra ignorierte die Stimme. Wenn sie aß, würde ihr das neue Kräfte geben. In einem Beutel hatte sie noch etwas getrockneten Fisch.

Mit ungelenken, halb erfrorenen Fingern versuchte sie, die Knoten des Beutels zu lösen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Schließlich zog sie das Messer aus ihrem Gürtel und zerschnitt ihn. Der Fisch war gefroren. Die Flußfischer hatten ihn in dünne Streifen geschnitten und an der Luft getrocknet. Gefroren waren diese Streifen so zerbrechlich wie Glas. Lysandra brach einen der Streifen in Stücke und steckte eines in den Mund. Sie mußte erst eine Weile darauf lutschen, bevor das Fleisch weich genug wurde, um es zu kauen. Es tat gut, wieder etwas zu essen.

Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien, und im blassen Licht des Madamals konnte die Amazone die eisige Ebene überblicken. Überall türmten sich Platten aus geborstenem Eis. Was sollte sie tun, wenn sie plötzlich vor dem dunklen Wasser des Sees stand?

In der Ferne grollte Donner. Lysandra schirmte das Gesicht mit der Hand gegen den Sturmwind und versuchte zu erkennen wie es weiterging. Am Horizont war ein mattes, rötliches Leuchten zu sehen. Man erzählte sich, daß es in der Mitte des Neunaugensees einen Vulkan gäbe, der immer dann aktiv wurde, wenn Unglück heraufzog.

Wenn sie auf den Vulkan zuging, würde sie den kürzesten Weg nehmen. Vielleicht war der See ja doch ganz zugefroren. Noch einmal blickte sie über das Eis.

Zwischen den Blöcken bewegte sich ein Schatten, der durch das Labyrinth zielstrebig auf sie zukam. Einen Moment verharrte die dunkle Gestalt und blickte in ihre Richtung. Das Licht des Madamais brach sich an einem metallischen Gegenstand auf seiner Brust. Das Amulett! Es war Rrul’ghargop. Der Orkkrieger mußte sie während des Schneesturms überholt haben. Trotz der Strapazen der letzten Stunden bewegte er sich immer noch so kraftvoll und ausdauernd, als habe ihm der Sturm nichts anhaben können.

Lysandra blickte sich um. Sich zu verstecken wäre sinnlos. Rrul’ghargop würde sie finden, und für einen Kampf fehlte ihr die Kraft. Es wäre ein Kinderspiel, ihr die Waffe aus der Hand zu schlagen. Der Ork war einfach besser ausgerüstet. Statt eines Küraß und eines Kettenhemdes, wie sie, trug er wärmende Pelze. Sie hatte verloren ...

»Endlich siehst du es ein. Deine Flucht war sinnlos. Er wird dich schlachten wie ein Tier. Dein Weg endet hier, und Xarvlesh kehrt endlich wieder zu meinem Volk zurück«, höhnte die Stimme des Geistes.

Lysandra weinte vor Wut. War wirklich alles vergebens gewesen? Der Kampf um die Stadt, ihre lange Flucht ...

Nein, sie würde nicht aufgeben! Die Amazone legte die Keule, die noch immer in ihren Umhang eingeschlagen war, vor sich aufs Eis und zog ihren Reitersäbel. Sie würde bis zuletzt kämpfen. Thalionmel hatte sich auch nicht ergeben, obwohl sie allein gegen sechshundert Wüstenreiter stand.

»Rondra schütze mich«, murmelte Lysandra und küßte das Heft ihres Säbels. Wie zur Antwort erklang in der Ferne ein Donnergrollen. Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte die Wolken für einen Augenblick in einen zugleich majestätischen und unheimlichen Purpurschein.

Breitbeinig stand Lysandra auf dem Eis und wartete auf den Orkkrieger. Kaum mehr als zehn Schritte trennten sie noch, als sie plötzlich von einem Chaos aus Lärm und Licht umgeben war. Das Eis erbebte unter ihren Füßen. Ein Blitz war nicht weit von ihr eingeschlagen und hatte einen riesigen Eisbrocken zertrümmert.

Noch immer schwankte der Boden. Ein bedrohliches Knirschen erklang. Rund um sie klafften Risse im Eis, die sich wie ein Blitz am Himmel schnell weiter verästelten. Der Orkkrieger hatte das Gleichgewicht verloren und war gestürzt. Zwischen ihnen war die Eiskruste aufgebrochen und in dem immer breiter werdenden Spalt schäumte das aufgewühlte Wasser des Sees. Auch Lysandra konnte sich kaum auf den Beinen halten. So weit sie in der Dunkelheit sehen konnte, war die ganze Eisdecke des Sees in Bewegung geraten.

Ihr Verfolger hatte sich mittlerweile wieder aufgerappelt und sprang auf eine benachbarte Eisscholle. Es schien, als wolle er versuchen, doch noch zu ihr zu gelangen.

Knirschend und krachend schlug das Eis aneinander. Alles war in Bewegung, und der Sturmwind trieb das zertrümmerte Eis nach Norden zur Mitte des Sees hin.

Rund um die kleine Insel aus Eis, auf der die Amazone gefangen saß, lag ein breiter Graben dunklen Wassers. Fast schien es, als hätten sich die Elemente verbündet, um sie vor dem Anführer der Orks zu schützen. Rrul’ghargop hatte eingesehen, daß er zumindest im Moment nicht mehr zu ihr gelangen konnte. Er nahm seinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil ein.

Die Amazone fluchte. Auf der großen Eisscholle stand sie wie auf einem Präsentierteller. Ein auch nur halbwegs geübter Bogenschütze konnte sie auf keinen Fall verfehlen. Schützend hob sie den zusammengeknäulten Umhang vor ihre Brust. Vielleicht würde sich das Geschoß darin verfangen. Im selben Moment, als ihr Verfolger den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, erbebte das Eis unter einer mächtigen Welle. Das Geschoß verfehlte sie um weniger als eine Hand breit.

Die Eisschollen tanzten auf dem schäumenden Wasser, als wären sie lebendige Wesen.

Und dann begann der mächtige Eisbrocken zu zerbrechen, der ihr bislang Zuflucht gewährt hatte. Lysandra stürzte nach hinten. Umhang und Keule entglitten ihren Fingern und fielen auf das Eis. Um sie herum schlug eisiges Wasser zusammen.

Den ersten Augenblick lang glaubte sie, sie könne nicht mehr atmen und würde auf der Stelle erfrieren, so kalt war das Wasser. Dann drohte sie das Gewicht ihrer Rüstung immer weiter in die Tiefe zu ziehen.

»Du mußt die Keule an dich nehmen. Sie wird dich retten«, heulte die Stimme des Geistes durch den Sturm.

Mit Mühe gelang es der Amazone noch einmal, den Kopf über Wasser zu bekommen. Aus dem Eisblock vor ihr ragte ein armdicker Ast. Er gehörte zu einem Baumstamm, der in einem Panzer von Eis gefangen war.

Lysandra griff nach dem Ast. »Nicht aufgeben«, murmelte sie vor sich hin.

»Nicht aufgeben!«

Die Kälte raubte ihr fast die Sinne. Bei jedem Atemzug konnte sie spüren, wie sie immer mehr die Wärme des Lebens verließ. Mit letzter Kraft zog sie sich auf die Eisscholle. Wenige Schritt vor ihr lag Xarvlesh.

»Nimm die Keule, sie wird dich wärmen!« raunte die quälende Stimme. Die Amazone robbte vorwärts. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten. Der eisige Wind ließ ihre nassen Kleider zu Eis erstarren, und ihre Sinne gaukelten ihr Bilder aus ihrer Kindheit vor, als sie zusammen mit ihrer Fechtlehrerin durch sonnendurchflutete Bergwälder geritten war. Lysandras Finger waren so kalt, daß sie sie nicht mehr zu bewegen vermochte. Wie Krallen schlug sie die erfrorenen Hände in den Umhang und zog ihn zu sich heran. Ganz dicht an ihre Brust drückte sie den Stoff. Jetzt wollte sie schlafen. Sie war so unendlich erschöpft. Nur für einen kurzen Moment die Augen schließen ...

»Wenn du schläfst, wirst du sterben. Wickle Xarvlesh aus der Decke. Die Waffe wird dich retten.« Die Stimme des Geistes war zu einem Kreischen geworden.

Nein! Sie würde dem Versucher widerstehen. Sie konnte doch nicht auf diese Art sterben! Sie war Kriegerin und Amazone. Sie würde ihr Ende in einem Kampf finden.

Und wenn sie doch erfrieren sollte?

»Nimm Xarvlesh. Preß die Waffe gegen dein Fleisch ... Sie wird dich ... wärmen.« Die Stimme in ihrem Kopf wurde immer schwächer.

Sie hatte doch noch gewonnen. Selbst wenn sie sterben sollte, dann würde es den Schwarzpelzen nicht mehr gelingen, an die Waffe zu gelangen. Sie würde auf einer Eisscholle mitten auf dem verfluchten See treiben. Das Eis würde tauen, und ihre Leiche würde mit Xarvlesh in den bodenlosen Tiefen des Neunaugensees versinken. Niemand würde dann jemals mehr diese Keule besitzen. Sie wäre auf alle Zeiten verloren.