Lysandra war zufrieden. Ja, sie durfte sich jetzt eine Pause gönnen. Nur für ein oder zwei Stunden würde sie schlafen, um die beißende Kälte zu vergessen. Sie war schon so müde, daß sie sich nicht mehr rühren konnte. Nach ein paar Stunden Schlaf würde sie aufstehen und nach einem Ausweg suchen.
Sicher würde der Wind sie ans Ufer treiben, und von dort aus konnte sie dann den Weg zu ihrer Burg fortsetzen. Rondra war ihr wieder gewogen. Das wußte Lysandra ganz sicher. Wer sonst, als die Göttin des Sturmes und des Krieges, sollte den Blitz vom Himmel geschleudert haben, der das Eis zerbrechen ließ.
Es hatte wieder begonnen zu schneien, und der Wind trieb die Eiskristalle wie kleine, weiße Pfeile gegen ihre Wangen. Zwischen den tanzenden Schneeflocken bewegte sich etwas. Doch es war nicht Rrul’ghargop. Den Anführer der Orks hatte sie nicht mehr gesehen, seit ihre Eisscholle zerbrochen war.
Was sich dort bewegte, schimmerte in einem angenehmen, warmen Rot. Die Gestalt schien auf vier Beinen zu gehen. Ja, jetzt konnte Lysandra sie besser erkennen. Irgend etwas schritt über das Wasser auf sie zu. Ihre Augenlider wurden immer schwerer. Sie mußte jetzt schlafen. Es wäre sinnlos noch länger dagegen anzukämpfen. Nur einen kurzen Augenblick wollte sie noch wach bleiben. Sie mußte wissen, was da auf sie zukam, auch wenn sie intuitiv spürte, daß die Gestalt ihr nicht übel gesinnt war. Jetzt konnte sie es schon besser sehen. Es war eine riesige, rote Löwin, die dort über das Wasser kam. Eine Sendbotin Rondras. Nur wenige Schritte noch, dann würde die Löwin sie erreicht haben und dann ...
Der Wind spielte mit den weißen Waffenröcken und Umhängen der fünf Ritter, die am Seeufer entlang galoppierten, so daß die roten Löwinnen, die sie zu Ehren ihrer Göttin als Wappen trugen, fast lebendig auf dem Stoff wirkten. Vor zwei Stunden hatten sie den verborgenen Tempel in Donnerbach verlassen, um das Seeufer zu erkunden. Ein Jäger, der nur mit Mühe dem schrecklichen Schneesturm entronnen war, der in den letzten Tagen über dem See getobt hatte, hatte Orks am Ufer gesehen. Die Ritter sollten nun erkunden, ob es sich dabei nur um einige verirrte Späher handelte oder ob vielleicht der Schwarze Marschall plante, die Stadt zu überfallen.
Der Sturm hatte das Eis auf dem See in Trümmer geschlagen. Wulf, der jüngste der fünf Ritter, konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen kalten Winter erlebt zu haben. Vielleicht lag das am Krieg, der schon so lange an den Kräften des Landes zehrte. Er hatte mit einigen seiner Ordensbrüder in der Schlacht bei Silkwiesen mitgekämpft und die Erfahrung machen müssen, daß Ritterlichkeit nicht mehr zu zählen schien, wenn zwei gewaltige Schlachtreihen aufeinandertrafen. Vielleicht lag es auch einfach daran, daß so viele Söldner, Bauern und Bürger in den Krieg hineingezogen worden waren.
Wieder schweifte der Blick des Ritters über den See. Das Ufer war in eine wilde Landschaft aus Eisbrocken verwandelt worden. Sogar vor Donnerbach war der Neunaugensee so weit gefroren gewesen, daß man, bevor der Sturm kam, eine halbe Meile weit ohne Gefahr auf das Eis hinausreiten konnte.
Wulf zügelte sein Pferd. Zwischen den bläulich schimmernden Eisschollen war ein sonderbarer Schatten auszumachen. Während die anderen schon weiterritten, trieb er seinen grauen Hengst näher zum Ufer. Dann sprang Wulf aufgeregt aus dem Sattel, löste sein Hörn vom Gürtel und gab den anderen ein Signal umzukehren.
Zwischen den Trümmern lag ein Mensch. Halb kletternd, halb rutschend überquerte der Ritter das Eisfeld und stand schließlich vor einer rothaarigen Frau, die zusammengekrümmt am Boden lag. Die Frau war erfroren. Ihr Gesicht und ihre Rüstung waren von Eis überzogen. Mit beiden Händen preßte sie ein Stoffbündel vor die Brust. Sie mußte während des Sturms versucht haben, den See zu überqueren.
Neugierig musterte Wulf das Stoffbündel, aus dem der Griff einer Waffe herausragte. Es mußte ein Keule oder Axt sein. Das Holz des Griffs war ungewöhnlich dunkel. Es schienen auch Runen oder Symbole in den Schaft eingraviert worden zu sein.
Inzwischen waren die anderen des Trupps eingetroffen. Hildebrand, der Waffenmeister des Tempels und Anführer der kleinen Truppe, beugte sich über die Tote, schreckte aber sofort wieder zurück, als sei er von einer unsichtbaren Kraft abgestoßen worden.
»Hast du sie berührt?« Der alte Mann blickte Wulf streng an.
»Nein, obwohl ich schon gerne die Waffe näher betrachtet hätte.«
»Gut!« Hildebrand strich sich über seinen weißen Bart und musterte die Leiche aus einigem Abstand. Dann wandte er sich zu den drei anderen Rittern um und beauftragte sie, in einem nahegelegenen Birkenwald einige lange Stangen zu schlagen.
»Wir werden eine Pferdebahre bauen und sie mit nach Donnerbach nehmen. Sie war eine Kriegerin und gehört in die Obhut Rondras.«
Als die anderen davongeritten waren, wandte sich Hildebrand wieder an Wulf.
»Hast du die Waffe gesehen, die sie trägt?«
Der junge Ritter nickte stumm.
»Die Waffe muß sehr wichtig sein. Ich glaube, die Kriegerin ist ihretwegen gestorben. Sieh dir an, wie sie den Stoff an ihren Körper gepreßt hat. Was immer sie unter diesem Umhang verbirgt, es wäre unmöglich, es ihr zu entreißen.«
»Seid Ihr denn nicht neugierig zu wissen, was sie bei sich trägt?«
Der Alte schwieg eine Weile und strich sich über den Bart. »Nein«, antwortete er schließlich. »Die Tote hat für dieses Geheimnis ihr Leben gegeben, und das respektiere ich. Vielleicht wäre es falsch, die Waffe auch nur zu berühren. Diese Waffe soll in ihren Händen in den Tempel gelangen. Ich glaube, der Fürst-Erzgeweihte Aldare wird das Orakel befragen, ob die Fremde nach den Tugenden Rondras gelebt hat. Ist sie würdig, im Tempel aufgebahrt zu werden, wird man sie mit Sicherheit in einer der geheimen Grotten bestatten, zu denen nur Hochgeweihte Zutritt haben.«
Wieder schwieg der alte Waffenmeister und musterte die tote Kriegerin. Der Wind spielte mit seinem Umhang. Mit dem wettergegerbten Gesicht, dem wehenden weißen Bart und seinem altertümlichen Kettenpanzer sah Hildebrand wie einer der Helden aus längst vergangenen Tagen aus. Wulf empfand tiefe Ehrfurcht vor dem alten Mann. So wie er wollte er auch eines Tage sein. Hildebrand war für ihn der Inbegriff von Ritterlichkeit. Schließlich brach der Waffenmeister das Schweigen. »Wir werden wohl nie erfahren, wie die Kriegerin gestorben ist und wer sie war. Doch glaube ich, daß sie diese Waffe in die Obhut des Tempels bringen wollte. Rondra selbst muß gewollt haben, daß wir sie finden und hat unsere Schritte zu ihr gelenkt, so daß sie ihr Ziel selbst im Tod noch zu erreichen vermag. Vielleicht wird die selbstlose Aufopferung der Kriegerin eines Tages unseren Knappen zum Ansporn dienen.«
In der Ferne konnten sie ihre drei Gefährten über die verschneite Ebene zum See zurückkommen sehen.
Hildebrand nahm seinen Umhang von den Schultern und deckte ihn über die Tote. Sorgfältig strich er die Falten glatt, so daß deutlich die rote Löwin, das Wappen des Ritterordens, zu erkennen war. Dann wandte er sich an Wulf. »Hilf mir jetzt. Wir wollen ihr einen würdigen Einzug nach Donnerbach bereiten.«
Der junge Ritter war verwirrt. Einen Augenblick lang hatte er eine seltsame Spiegelung in der aufragenden Eisklippe hinter der Toten gesehen. Ganz deutlich war ihm die Gestalt der Kriegerin im Eis erschienen. Sie trug eine Rüstung nach Machart der Amazonen, doch von ihren Schultern wehte der weiße Ordensmantel der Rondrageweihten. Sie winkte einmal und drehte sich dann um. Als sie verschwand, schien neben ihr eine rote Löwin zu schreiten.
»Helft Ihr mir jetzt, Herr Ritter, oder wollt Ihr alle Arbeit einen alten Mann machen lassen?« Beim Klang der Worte war die Vision verschwunden. Wulf beeilte sich, dem Waffenmeister zur Hand zu gehen. Wenn Hildebrand begann, ihn mit Ritter zu titulieren, würde es erfahrungsgemäß nicht mehr lange dauern, bis er ihn anbrüllte wie ein wütender Stier.