Marcian hatte oft darüber nachgedacht, warum der Marschall nicht zu Beginn des Frühjahrs die Belagerung aufgegeben hatte und bis zum Schluß um die Stadt kämpfte. Xarvlesh, die Kultwaffe, um die es den Orks ursprünglich einmal gegangen war, war von Lysandra fortgeschafft worden. Warum also der erbitterte Kampf?
Vielleicht hatte Sadrak Whassoi geplant, sich selber in der Stadt zu verschanzen, die sich ihm so lange erfolgreich widersetzt hatte? Ob er hier dem Heer des Prinzen trotzen wollte? Vielleicht war es ihm auch nur darum gegangen ein Exempel zu statuieren und den Nimbus der Unschlagbarkeit seiner Armee wiederherzustellen, indem er Greifenfurt doch noch eroberte. Während der letzten zwei Wochen war Marcian mit den Freischärlern in der Garnison der Stadtwache eingeschlossen gewesen. Unter den rauhbeinigen Kriegern hatte in diesen Tagen eine seltsame Geschichte die Runde gemacht. Manche behaupteten, Lysandra sei zurückgekehrt. Ein bärtiger Bogenschütze hatte Marcian erzählt, die Amazone habe ihn spät in der Nacht, als er kurz davor war, vor Erschöpfung auf Wache einzuschlafen, aufgerüttelt und ihn vor einem Überraschungsangriff der Orks gewarnt, der dann auch tatsächlich wenig später stattfand. Andere berichteten, Lysandra habe plötzlich an ihrer Seite gestanden, wenn der Kampf gegen die Schwarzpelze schon fast verloren schien, und habe sie angefeuert, nicht aufzugeben. Marcian hatte die Amazone nie zu Gesicht bekommen. Doch erinnerte er sich mit Unbehagen an eine Nacht, die er am Lager einer Sterbenden verbracht hatte. Die Frau hatte, kurz bevor Golgari kam, um sie zu Boron zu holen, angefangen zu phantasieren und im Fieberwahn so gesprochen, als stünde Lysandra an ihrer Seite.
Wann immer er mit den Freischärlern über diese seltsamen Vorkommnisse sprach, hatten sie ihn an den Satz erinnert, mit dem sich die Amazone von ihren Kriegern verabschiedet hatte. Wenn eure Stunde gekommen ist, werde ich wieder hier sein. Also mußte Lysandra tot sein und ihren Frieden mit den Göttern gemacht haben. Ob ihm auch ein so gnädiges Schicksal bestimmt war? Der Inquisitor war am Morgen in den Tempel der Rondra gegangen und hatte ein langes Dankgebet zur Göttin des Krieges gesprochen. Vielleicht würde wenigstens sie für ihn sprechen, wenn die Stunde seines Todes gekommen war. Daß er vor Praios keine Gnade finden konnte, war ihm bewußt. Der Gott würde niemals einem Inquisitor vergeben, der sich mit den Mächten der Finsternis eingelassen hatte, um mit einem Vampir einen Pakt zu schließen.
Über eine schmale Steintreppe stieg Marcian in den Hof der kleinen Festung herab, deren Herzstück der Rondra-Tempel bildete. Er konnte sich schon die Rede des Anklägers vorstellen, die ihn erwartete, falls er tatsächlich vor ein Gericht der Inquisition gestellt würde. Man würde ihm vorwerfen, daß er dem Glauben an Praios verloren hatte. Das schlimmste Verbrechen, dessen ein Inquisitor angeklagt werden konnte. Vermutlich, würde man argumentieren, daß gerade weil er sich mit Zerwas eingelassen hatte, die Stadt keinen Beistand von den Göttern erhalten hatte. Auf jeden Fall würde die Anklage dafür plädieren, ihn wegen Verrats an der heiligen Aufgabe der Inquisition zum Tod auf dem Scheiterhaufen zu verurteilen. Marcian war sich sicher, daß sein alter Feind Roderick sich darum reißen würde, die Rolle des Anklägers zu übernehmen. Schon einmal hatte er versucht, ihn auf den Scheiterhaufen zu bringen.
Der Inquisitor dachte an den stürmischen Frühlingstag, an dem seine Geliebte, Jorinde, wegen Hexerei verbrannt worden war. Er hätte sich damals zu ihr bekennen und mit ihr auf den Scheiterhaufen steigen sollen. Wie viele Tode wären dadurch verhindert worden! Es schien sein Schicksal zu sein, in den Flammen der Inquisition zu sterben. Seitdem er vor diesem Tod davongelaufen war und er seine Liebe verleugnet hatte, hatten die Götter ihn nur ein weiteres Mal auf den Weg zu einem Scheiterhaufen geführt. Es schien ihm bestimmt zu sein, so zu sterben ... Hatte er also das Recht wieder zu fliehen? Welchen neuen Kreislauf aus Tod und Verderben würde er mit seiner Flucht beschreiten? Und würde er nicht am Ende seines Weges wieder vor einem Scheiterhaufen stehen?
Sein Blick schweifte über den Hof. Nur ein paar Schritt von der Stelle, an der er jetzt stand, hatte man vor einem Jahr die Leiche von Lucilla, der Tochter des Bäckers Dromgast gefunden. Egal, wohin er in dieser Stadt ging, überall würde er an Tote erinnert. Auf der anderen Seite des Hofes wuchs neben dem Tempel ein Rosenbusch aus der rissigen Wehrmauer. Er hatte Winter und Krieg überstanden und trug nun die ersten Blüten. Wie gerne hätte er Cindira jetzt eine Rose geschenkt, hätte mit ihr die Befreiung der Stadt gefeiert und wäre am Morgen in ihren Armen erwacht.
Aus dem Fluß, der jetzt nur noch wenig Wasser führte, ragten noch immer die verkohlten Spanten der ausgebrannten Schiffe. Sie waren wie Mahnmale für die Toten des Winters. Nach der letzten Schlacht würde er zum Ufer reiten, und dort, wo Cindira gestorben war, sein Schwert und seinen Schild ablegen. Er würde in keinen Kampf mehr ziehen. Vielleicht sollte er sich dann der Inquisition stellen und sich seinem Schicksal fügen?
Doch erst würde er zu Darrag, dem Schmied, gehen, dessen Werkstatt auf der Rückseite der kleinen Tempelfestung lag. Marcian hatte den bulligen Mann seit Monaten nicht mehr gesprochen. Obwohl die Stadt nicht groß war, hatten sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt. Darrag sollte ihm das Schwert schleifen. Die Klinge war in den vielen Kämpfen der letzten Wochen schartig geworden, so daß ein Wetzstein allein nicht mehr viel nutzte.
Anshelm brütete bei Kerzenschein über den Papieren. Er hatte mehr als ein Dutzend Verhöre durchgeführt und zu Protokoll gebracht. Die Beweislast gegen Marcian war erdrückend. Er hatte so ziemlich alles verraten, was der Inquisition heilig war.
Odalbert und Riedmar, zwei der Agenten der KGIA, die mit Marcian in die Stadt gekommen waren, hatten Anshelm alles über die Geschichte von Zerwas verraten und über den Pakt, den der Inquisitor mit diesem Vampirfürsten geschlossen hatte. Dafür würde Marcian auf dem Scheiterhaufen stehen. Nicht einmal Baron Dexter Nemrod könnte ihn jetzt noch retten.
Trotzdem war Anshelm nicht glücklich über seinen Erfolg. Er verdankte Marcian sein Leben. Hätte der Inquisitor nicht rechtzeitig in sein Horn gestoßen, so hätte Zerwas ihn getötet, dessen war sich Anshelm sicher. Er strich sich geistesabwesend mit dem breiten Ende des Federkiels über die Wange. Er würde Marcian durch die Tempelgarden verhaften lassen, auch wenn ihm das im Grunde widerstrebte. Er würde nicht der Versuchung erliegen ... Aber vielleicht blieb noch etwas Zeit. Der Prinz wollte Marcian nach der letzten Schlacht gegen die Orks adeln und in den Ritterstand erheben. Brin wußte nichts von den Bedenken der Inquisition.
Anshelm legte den Federkiel zur Seite. Er würde warten, bis der Prinz die Stadt verlassen hatte. Dann sollte Marcian seinem Schicksal zugeführt werden. Die Garde würde ihn nachts gefangennehmen und in einem geschlossenen Wagen zur Stadt des Lichts bringen. Es würde dem Ansehen der Inquisition schaden, wenn er diese Verhaftung in aller Öffentlichkeit vornahm. Es war besser, wenn das, was hier in Greifenfurt wirklich geschehen war, ein Geheimnis der Inquisition blieb. Dabei stellte sich allerdings die Frage, was er mit den Agenten machen sollte, die gemeinsam mit Marcian vor einem Jahr in die Stadt gekommen waren. Man mußte davon ausgehen, daß sie alle über das Bescheid wußten, was vorgefallen war. Anshelm blickte auf die Liste der Männer und Frauen, die vor ihm lag. Sartassa, Nyrilla und Ulf der Söldner waren tot.
Arthag war wahnsinnig geworden. Odalbert und Riedmar dienten treu der Sache der Inquisition. Auch dem Ingerimm-Geweihten konnte man trauen. Nur die Jägerin und der Magier Yonsus mochten vielleicht gefährlich werden. Sie hatten sich bis zuletzt geweigert, Aussagen zu machen, die Marcian vor der Inquisition belasten konnten. Selbst die Drohung, daß man ihnen wegen Mittäterschaft einen Prozeß machen könnte, hatte sie nicht erschüttert. Diese Verstocktheit würde nur dazu führen, daß man sie gemeinsam mit Marcian anklagte.