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Ihre Hand langte nach dem Telefon. Er hatte gesagt, sie solle nichts unternehmen, aber wenn er nun tot war oder unter Schutt begraben?

Sie hatte noch nicht den Mut, in den Keller zu gehen. Sie hob den Hörer ab und wählte den Polizeinotruf.

»Hallo, ist dort die Polizei?«

»Ich hatte dich gebeten, nicht anzurufen«, sagte eine schwache und tonlose Stimme, die aus der Küche kam.

»Papa! Papa!«

Sie legte auf, während es aus dem Hörer noch klang: »Hallo, reden Sie, geben Sie uns Ihre Adresse.« Klack.

»Aber ja, klar doch, ich bin’s, ihr brauchtet euch keine Sorgen zu machen. Ich hab doch gesagt, ihr sollt ruhig auf mich warten.«

Sich keine Sorgen machen? Der hatte Nerven!

Jonathan hatte auf dem Arm, was von Ouarzazate übriggeblieben war, ein blutiger Klumpen Fleisch. Und auch er selbst war verändert, wie verklärt. Er war keineswegs bedrückt, er erschien sogar eher heiter. Nein, nicht heiter, wie sollte man es nennen? Man hatte den Eindruck, er sei gealtert oder er sei krank. Seine Augen blickten fiebrig, seine Haut war aschfahl, er zitterte und wirkte abgehetzt.

Nicolas brach in Tränen aus, als er den zerhackten Körper seines Hundes sah. Man hätte meinen können, der arme Pudel sei mit Rasiermessern zerfetzt worden.

Sie legten ihn auf eine ausgebreitete Zeitung.

Nicolas weinte bitterlich über den Verlust seines Freundes. Es war vorbei. Nie wieder würde er ihn gegen die Wand springen sehen, wenn man »Katze« sagte. Nie wieder würde er sehen, wie er mit einem fröhlichen Hüpfer eine Türklinke herunterdrückte. Nie wieder würde er ihn vor den großen homosexuellen Schäferhunden retten müssen.

Es gab keinen Ouarzazate mehr.

»Morgen bringen wir ihn zum Hundefriedhof von Père-Lachaise«, meinte Jonathan resignierend. »Wir kaufen ihm dieses Grab zu viertausendfünfhundert Francs, an dem man ein Foto von ihm anbringen kann.«

»Ja! Au ja!« sagte Nicolas schluchzend. »Das ist das mindeste, was er verdient.«

»Und danach gehen wir zum Tierschutzverein, und da suchst du dir einen anderen Hund aus. Was hältst du von einem kleinen Malteser? Die sind auch sehr niedlich.«

Lucie konnte es immer noch nicht fassen. Sie wußte nicht, was sie als erstes fragen sollte. Warum war er so lange fortgeblieben? Was war mit dem Hund geschehen? Und was mit ihm selbst? Wollte er etwas essen? Hatte er nicht bedacht, wieviel Angst sie um ihn haben mußten?

»Was gibt es denn da unten?« fragte sie schließlich mit matter Stimme.

»Nichts, nichts.«

»Guck dir doch an, in welchem Zustand du zurückgekommen bist! Und der Hund ... Der sieht aus, als wäre er durch den Fleischwolf gedreht worden. Was ist mit ihm passiert?«

Jonathan wischte sich mit seiner schmutzigen Hand über die Stirn.

»Der Notar hatte recht, es wimmelt von Ratten da unten. Ouarzazate ist von ihnen in Stücke gerissen worden.«

»Und du?«

Er grinste.

»Ich bin ein großes Tier, vor mir haben sie Angst.«

»Das ist doch verrückt! Was hast du denn acht Stunden lang da unten getrieben? Was ist in diesem verdammten Keller?« brauste sie auf.

»Ich weiß es nicht genau. Ich bin nicht ganz hinuntergestiegen.«

»Du bist nicht ganz hinuntergestiegen?«

»Nein, das ist sehr, sehr tief.«

»In acht Stunden hast du es nicht bis zum Ende ... zum Ende unseres Kellers geschafft?«

»Nein. Ich bin nicht mehr weitergegangen, als ich den Hund gefunden habe. Da war überall Blut. Weißt du, Ouarzazate hat sich verzweifelt gewehrt. Es ist unglaublich, daß ein so kleiner Hund so lange standhalten kann.«

»Und wie weit bist du gekommen? Bis zur Hälfte?«

»Woher soll ich das wissen? Jedenfalls konnte ich nicht mehr weiter. Ich hatte auch Angst. Du weißt, ich kann Dunkelheit und Gewalt nicht ausstehen. Jeder an meiner Stelle wäre umgekehrt. Man kann nicht ewig ins Ungewisse gehen. Außerdem habe ich an dich, an euch denken müssen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das da ist ... Das ist so finster. Das ist der Tod.«

Bei seinen letzten Worten erfaßte ein Zucken seinen linken Mundwinkel. So hatte sie ihn noch nicht erlebt. Sie erkannte, daß sie ihn nicht noch mehr bedrängen durfte. Sie legte ihre Arme um seine Taille und küßte seine kalten Lippen.

»Beruhige dich, es ist vorbei. Wir werden diese Tür zumauern, und dann reden wir nicht mehr davon.«

Er wich zurück.

»Nein. Es ist nicht vorbei. Ich habe mich da unten von diesem Blut abschrecken lassen. Jeder wäre zurückgeschreckt. Gewalt erschreckt einen immer, selbst wenn sie sich gegen Tiere richtet. Aber ich kann jetzt nicht aufgeben, vielleicht ganz kurz vor dem Ziel .«

»Du willst doch nicht etwa dahin zurück?«

»Doch. Edmond ist dahin gegangen, also werde ich es auch.«

»Edmond? Dein Onkel Edmond?«

»Er hat irgend etwas da unten gemacht, und ich will wissen, was.«

Lucie unterdrückte ein Stöhnen.

»Bitte, um meinet- und um Nicolas’ willen, geh nicht mehr da runter.«

»Ich habe keine Wahl.«

Wieder hatte er dieses Zucken am Mundwinkel.

»Ich habe immer alles nur halb gemacht. Immer bin ich stehengeblieben, wenn mir mein Verstand sagte, daß Gefahr droht. Sieh doch, was aus mir geworden ist. Ein Mann, der zwar der Gefahr aus dem Weg gegangen ist, der es aber auch zu nichts gebracht hat. Nie bin ich den Dingen auf den Grund gegangen, weil ich ständig auf halbem Weg stehengeblieben bin. Ich hätte weiter als Schlosser arbeiten sollen, und wenn ich überfallen worden wäre, Pech für den Boß. Das wäre eine Art Feuertaufe gewesen, ich hätte die Gewalt erlebt und gelernt, mit ihr umzugehen. Statt dessen bin ich wie ein Baby ohne jede Erfahrung, weil ich Schwierigkeiten immer ausgewichen bin.«

»Du spinnst.«

»Nein, ich spinne nicht. Man kann nicht ewig in Watte leben. Dieser Keller ist die Gelegenheit, den Schritt zu wagen. Wenn ich es nicht tue, werde ich nie mehr in den Spiegel schauen können, ich müßte mir immer sagen, daß ich ein Feigling bin. Außerdem, erinnere dich, du selbst hast mich gedrängt, da runterzugehen.«

Er zog sein blutbeflecktes Hemd aus.

»Na schön, dann komme ich aber mit!« erklärte sie und packte die Taschenlampe.

»Nein, du bleibst hier!«

Er hatte ihre Handgelenke gepackt.

»Laß mich los, was ist in dich gefahren?«

»Entschuldige, aber du mußt einsehen, dieser Keller geht nur mich etwas an. Das ist mein Sprung ins kalte Wasser, das ist mein Weg. Und niemand darf sich da einmischen, verstehst du?«

Hinter ihnen weinte Nicolas immer noch über Ouarzazates Überresten. Jonathan ließ Lucies Handgelenke los und ging zu seinem Sohn.

»Na komm, mein Junge, ist ja gut!«

»Ich hab’s satt. Ouarzi ist tot, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch zu streiten.«

Jonathan versuchte ihn abzulenken. Er nahm eine Schachtel Streichhölzer, entnahm ihr sechs Stück und legte sie auf den Tisch.

»Da, guck mal, ich zeig dir ein Rätsel. Man kann mit diesen sechs Streichhölzern vier gleichseitige Dreiecke bilden. Denk gut nach, dann bekommst du’s raus.«

Der Junge trocknete überrascht seine Tränen und zog die Nase hoch. Dann fing er an, die Streichhölzer auf unterschiedliche Weise anzuordnen.

»Ich geb dir noch einen Tip. Um die Lösung zu finden, mußt du anders denken. Wenn man überlegt, wie man es gewohnt ist, kommt man nicht darauf.«

Nicolas schaffte es, drei Dreiecke zu bilden. Keine vier. Er blickte auf, blinzelte mit seinen großen blauen Augen.

»Hast du die Lösung gefunden, Papa?«

»Nein, noch nicht, aber ich spüre, daß ich nicht mehr lange brauche.«

Jonathan hatte seinen Sohn vorläufig beruhigt, nicht jedoch seine Frau. Lucie warf ihm wütende Blicke zu. Und am Abend hatten sie einen ziemlich heftigen Streit. Es nutzte nichts, Jonathan wollte nichts über diesen Keller und sein Geheimnis sagen.