Anfangs gewannen die erfahreneren Termiten sämtliche Schlachten. Aber die Ameisen paßten sich an. Sie kopierten die Waffen der Termiten und erfanden neue. Die weltweiten Kriege zwischen Termiten und Ameisen entfachten zwanzig Millionen Jahre lang den Planeten. Schließlich erlangten die Ameisen einen entscheidenden Vorteil, als sie die Waffe des Säurestrahls entdeckten.
Die Schlachten zwischen den beiden Arten dauern bis heute an, aber selten nur tragen die Einheiten der Legionen den Sieg davon.
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
»Sie kannten ihn aus Afrika, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete der Professor. »Edmond hatte Kummer. Seine Frau war gestorben, wenn ich mich recht entsinne. Er hat sich mit Feuereifer in das Studium der Insekten gestürzt.«
»Und weshalb Insekten?«
»Warum nicht? Die Insekten schlagen uns seit Menschengedenken in ihren Bann. Schon unsere frühesten Vorfahren fürchteten die Mücken, die ihnen das Fieber übertrugen, die Flöhe, die Juckreiz verursachten, die Spinnen, die sie stachen, die Rüsselkäfer, die ihre Nahrungsvorräte auffraßen. Das hat Spuren hinterlassen.«
Jonathan befand sich im entomologischen Labor Nr. 326 des Nationalen Forschungszentrums in Fontainebleau und unterhielt sich mit Prof. Daniel Rosenfeld, einem gutaussehenden, freundlichen, überaus redegewandten alten Herrn mit einem Pferdeschwanz.
»Das Insekt verunsichert uns, es ist kleiner und zarter als wir, und dennoch trotzt es uns, es bedroht uns sogar. Im übrigen, wenn man es recht bedenkt, landen wir zu guter Letzt alle in den Mägen der Insekten. Denn es sind die Maden, die Larven der Fliegen also, die sich an unseren sterblichen Überresten gütlich tun ...«
»Daran hatte ich nicht gedacht.«
»Das Insekt wurde lange als die Inkarnation des Bösen angesehen. Beelzebub, eine der Ausgeburten der Hölle, wird zum Beispiel mit einem Fliegenkopf dargestellt. Das ist kein Zufall.«
»Die Ameisen haben einen besseren Ruf als die Fliegen.«
»Je nachdem. Das ist von Kultur zu Kultur verschieden. Im Talmud sind sie das Symbol der Rechtschaffenheit. Im tibetanischen Buddhismus repräsentieren sie die Lächerlichkeit des materiellen Strebens. Die Bauli (??) an der Elfenbeinküste glauben, daß eine schwangere Frau, die von einer Ameise gebissen wird, ein Kind mit einem Ameisenkopf zur Welt bringt. Manche polynesischen Stämme hingegen halten sie für winzige Gottheiten.«
»Edmond hatte doch vorher über Bakterien gearbeitet. Weshalb hat er damit aufgehört?«
»Weil er seine Forschungen auf dem Gebiet der Insekten, und ganz besonders der Ameisen, tausendmal spannender fand. Und wenn ich >Forschungen< sage, dann meine ich damit ein totales Engagement. Niemand anders als er hat das Gesuch zum Verbot der Spielzeugameisenhaufen eingereicht, jener Plastikdosen mit einer Königin und sechshundert Arbeiterinnen, die in den Supermärkten verkauft wurden. Und er hat sich dafür eingesetzt, Ameisen als >Insektizide< zu verwenden. Er wollte, daß systematisch Städte roter Ameisen in den Wäldern eingerichtet werden, um sie von Parasiten zu befreien. Das war gar nicht so dumm. Schon früher hat man Ameisen benutzt, um die Raupen des Prozessionsspinners an den italienischen Kiefern und die Pamphiliide (??) der polnischen Tannen zu bekämpfen, zwei Schädlinge, die ganze Wälder heimsuchen.«
»Die Insekten gegeneinander aufzuhetzen, war das seine Idee?«
»Mmmh ... Er nannte das >sich in ihre Diplomatie einmischen<. Im letzten Jahrhundert ist mit den chemischen Insektiziden dermaßen viel Unfug angestellt worden. Man darf die Insekten nie frontal angreifen, und erst recht darf man sie nicht unterschätzen und hoffen, sie zu bezwingen, wie man es mit den Säugetieren gemacht hat. Das Insekt hat beispielsweise eine Parade gegen sämtliche chemischen Giftstoffe: den Mithridatismus. Daß man es immer noch nicht geschafft hat, der Heuschreckenplage Herr zu werden, wissen Sie, das liegt daran, daß sie sich an alles gewöhnen, diese Teufelchen. Pumpen Sie sie mit Vertilgungsmittel voll, zu neunundneunzig Prozent krepieren sie, aber ein Prozent überlebt. Und dieses eine Prozent ist nicht nur immunisiert, sondern bringt kleine Heuschrecken zu Welt, die zu hundert Prozent gegen dieses Insektizid >geimpft< sind. So hat man vor zweihundert Jahren den Fehler begangen, ständig die Giftigkeit der Produkte zu erhöhen. So daß sie mehr Menschen als Insekten töteten. Und wir haben hyperresistente Insektenstämme geschaffen, die imstande sind, die giftigsten Stoffe ohne jeden Schaden zu konsumieren.«
»Wollen Sie damit sagen, daß es kein wirksames Mittel gibt, die Insekten zu bekämpfen?«
»Überzeugen Sie sich selbst. Es gibt immer noch Mücken, Heuschrecken, Rüsselkäfer, Tsetsefliegen - und Ameisen. Sie widerstehen allem. 1945 hat man festgestellt, daß einzig die Ameisen und die Skorpione die nukleare Explosion überlebt haben. Sogar daran haben sie sich gewöhnt!«
Nr. 327 hat das Blut einer Zelle des Volkes vergossen. Er hat seinem eigenen Organismus schlimmste Gewalt angetan. Das hinterläßt einen bitteren Beigeschmack. Aber hatte er eine andere Wahl, wo er doch überleben mußte, um als Hormon der Information seinen Auftrag zu erfüllen?
Nur weil man versucht hat, es zu töten, hat es selbst getötet. Das ist eine Kettenreaktion. Wie der Krebs. Wenn sich das Volk ihm gegenüber unnormal verhält, ist es gezwungen, ebenso zu handeln. Es muß sich mit diesem Gedanken vertraut machen.
Es hat eine Schwesterzelle getötet. Es wird vielleicht weitere töten.
»Aber was hat er in Afrika gewollt? Ameisen gibt es doch überall, wie Sie selbst sagen.«
»Sicher, aber nicht die gleichen Ameisen ... Ich glaube, nach dem Verlust seiner Frau war ihm alles einerlei; heute frage ich mich sogar, ob er nicht darauf wartete, daß die Ameisen seinen Selbstmord besorgten.«
»Wie bitte?«
»Sie haben ihn um ein Haar aufgefressen, verdammt noch mal! Die afrikanischen Seidenameisen ... Haben Sie nie den Film Wenn die Marabunta grollt gesehen?«
Jonathan schüttelte den Kopf.
»Die Marabunta nennt man die Masse von Seidenameisen, oder auch annoma nigricans, die durch das Flachland zieht und auf ihrem Weg alles zerstört.«
Prof. Rosenfeld stand auf, als wollte er sich einer unsichtbaren Welle entgegenstemmen.
»Zuerst hört man eine Art gewaltiges Rauschen, das sich aus den Schreien und dem Kreischen, dem Flügelschlagen und Stampfen sämtlicher Kleintiere zusammensetzt, die die Flucht ergreifen. In diesem Stadium ist von den Seidenameisen noch nichts zu sehen. Dann tauchen einige Kriegerinnen auf einem Hügel auf. Nach diesen Kundschafterinnen kommen die anderen ganz schnell, in Kolonnen, so weit das Auge reicht. Das ist wie ein Lavastrom, der alles einschmelzt, was er berührt.«
Der Professor ging gestikulierend, von seinem Gegenstand hingerissen, auf und ab.
»Das ist das giftige Blut Afrikas. Lebende Säure. Ihre Anzahl ist erschreckend. Eine Kolonie von Seidenameisen legt Tag für Tag durchschnittlich fünfhunderttausend Eier. Ganze Eimer könnte man damit füllen ... Und dieser Strom aus schwarzer Schwefelsäure fließt dahin, klettert Böschungen und Bäume hinauf, nichts kann ihn aufhalten. Die Vögel, Eidechsen oder insektenfressenden Säugetiere, die das Pech haben, ihnen zu nahe zu kommen, werden sogleich zerstückelt. Die reinste Apokalypse! Die Seidenameisen haben vor keinem Tier Angst. Einmal habe ich eine zu neugierige Katze gesehen, die sich im Handumdrehen in nichts auflöste. Sie überqueren sogar Flüsse, indem sie Pontonbrücken mit ihren eigenen Kadavern errichten . ! An der Elfenbeinküste, in der Gegend, die an das ökologische Institut von Lamto grenzt, in dem wir arbeiteten, hat die Bevölkerung immer noch kein Mittel gegen ihre Invasion gefunden. Sobald es heißt, daß diese winzigen Attilas ihr Dorf durchqueren werden, raffen die Leute ihr wertvollstes Hab und Gut zusammen und fliehen. Sie stellen Tisch- und Stuhlbeine in Eimer voll Essig und beten zu ihren Göttern. Wenn sie zurückkommen, ist alles blitzblank, als wäre ein Taifun hindurchgefegt. Es gibt nicht mehr das kleinste Bröckchen Nahrung oder irgendeiner organischen Substanz. Auch kein Ungeziefer mehr. Letztlich sind die Seidenameisen das beste Mittel, seine Hütte von Grund auf zu reinigen.«