»Und wie haben Sie sie dann studieren können, wenn sie so blutdürstig sind?«
»Wir haben gewartet, bis es Mittag war. Die Insekten haben keinen Wärmehaushalt wie wir. Ist es draußen 18°, ist es auch in ihrem Körper 18°, und wenn Hitze herrscht, fängt ihr Blut an zu kochen. Das ist unerträglich für sie. Also graben sich die Seidenameisen bei den ersten heißen Strahlen ein Nest, sozusagen ein Biwak, in dem sie eine mildere Witterung abwarten. Das ist eine Art Miniwinterschlaf, nur daß sie nicht von der Kälte, sondern von der Hitze lahmgelegt werden.«
»Und dann?«
Jonathan hatte Schwierigkeiten, ein richtiges Zwiegespräch zu führen. Für ihn waren solche Gespräche wie kommunizierende Röhren. Es gibt einen, der Bescheid weiß, die volle Röhre, und einen, der nicht Bescheid weiß, die leere Röhre, in der Regel er selbst. Jener, der nichts weiß, sperrt die Ohren auf und kurbelt von Zeit zu Zeit den Redeschwung seines Gesprächspartners mit einem »Und dann?«, einem »Erzählen Sie mir davon« und einem Kopfnicken an.
Wenn es andere Mittel gab, sich zu unterhalten, so kannte er sie nicht. Außerdem kam es ihm vor, wenn er seine Zeitgenossen betrachtete, als hielte ein jeder nur parallele Monologe und benutzte den anderen als kostenlosen Psychiater. Unter diesen Umständen zog er seine eigene Technik vor. Es hatte vielleicht den Anschein, als wüßte er nichts, aber zumindest lernte er so unaufhörlich dazu. Besagt nicht ein chinesisches Sprichwort: Wer eine Frage stellt, ist fünf Minuten dumm, wer keine stellt, ist es sein Leben lang?
»Und dann? Wir sind hingegangen, verflixt! Und das war was, glauben Sie mir. Wir hatten vor, diese verfluchte Königin zu finden. Besagtes dickes Tierchen, das fünfhunderttausend Eier am Tag legt. Wir wollten sie nur sehen und fotografieren. Wir haben dicke Kanal arb ei ter stiefel angezogen. Pech für Edmond, er hatte Größe 43, und es war nur noch ein Paar in 40 da. Er ist in Pataugas mitgekommen ... Ich erinnere mich, als wäre das gestern gewesen. Um 12.30 Uhr haben wir die vermutliche Form des Nest-Biwaks auf den Boden gekratzt und haben ringsum einen Graben von einem Meter Tiefe gebuddelt.
Um 13.30 Uhr haben wir die äußeren Kammern erreicht. Eine schwarze und knisternde Flüssigkeit kam uns entgegen. Tausende höchst aufgeregte Kriegerinnen knallten mit ihren Mandibeln, die bei dieser Art scharf sind wie Rasierklingen. Sie pflanzten sie in unsere Stiefel, während wir uns mit Schaufel und Hacke weiter in Richtung Königin vorkämpften. Schließlich haben wir unseren Schatz gefunden. Ein Insekt, zehnmal größer als unsere europäischen Königinnen. Wir haben sie von allen Seiten genauestens fotografiert, während sie in ihrer Duftsprache sicher ein ums anderemal God save the Queen rief ... Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Von überall her tauchten Kriegerinnen zusammen und bildeten Klumpen auf unseren Füßen. Einigen gelang es sogar, über ihre Kolleginnen hinweg, die sich in das Gummi verbissen hatten, nach oben zu klettern. Von dort krabbelten sie uns unter die Hose, dann unters Hemd. Wir wurden alle zu Gullivern, aber unsere Liliputaner hatten nur den einen Gedanken, uns in mundgerechte Portionen zu zerlegen! Wir mußten vor allem aufpassen, daß sie nicht in unsere Körperöffnungen eindrangen: Nase, Mund, Anus, Trommelfell. Sonst ist es aus, sie graben sich innen durch!«
Jonathan schwieg beeindruckt. Der Professor schien die ganze Szene noch einmal zu erleben, er führte sie mit der Kraft des jungen Mannes vor, der er nicht mehr war.
»Wir gaben uns heftige Klapse, um sie zu vertreiben. Sie, sie ließen sich von unserem Atem und unserem Schweiß leiten. Wir hatten allesamt Yogaübungen gemacht, um langsam zu atmen und unsere Angst zu kontrollieren. Wir haben versucht, nicht zu denken, diese Trauben von Kriegerinnen zu vergessen, die uns töten wollten. Und wir haben zwei ganze Filme verknipst, zum Teil mit Blitz. Kaum waren wir damit fertig, sprangen wir alle aus dem Graben. Außer Edmond. Die Ameisen hatten ihn von Kopf bis Fuß eingehüllt, sie schickten sich an, ihn aufzufressen! Wir haben ihn schnell an den Armen herausgezogen, haben ihn entkleidet und mit dem Buschmesser sämtliche Kiefer und Köpfe abgeschabt, die in seinem Körper steckten. Wir waren alle zerschunden, aber nicht so wie er mit seinen Pataugas. Und vor allem: er war in Panik geraten, er hatte Angstpheromone ausgeschieden.«
»Schrecklich.«
»Nein, prima, daß er mit dem Leben davongekommen ist. Das hat ihm die Ameisen überdies nicht verleidet. Im Gegenteil, er hat sie noch besessener erforscht.«
»Und danach?«
»Er ist nach Paris zurückgekehrt. Wir haben nichts mehr von ihm gehört. Er hat seinen alten Rosenfeld kein einziges Mal angerufen, der Schuft. Schließlich habe ich in der Zeitung gelesen, daß er tot ist. Frieden seiner Asche.«
Er ging zum Fenster, um den Vorhang zur Seite zu schieben und ein altes Thermometer in emailliertem Blech zu betrachten.
»Hm, 30° mitten im April, unglaublich. Es wird von Jahr zu Jahr heißer. Wenn das so weitergeht, ist Frankreich in zehn Jahren ein tropisches Land.«
»Steht es so schlimm?«
»Man merkt es kaum, weil das langsam fortschreitet. Aber wir Insektenforscher stellen es an einigen ganz präzisen Details fest: Plötzlich gibt es im Pariser Becken Insektenarten, die für die Äquatorgegenden typisch sind. Ist Ihnen nie aufgefallen, daß die Schmetterlinge immer schillernder werden?«
»In der Tat, gestern habe ich einen auf einem Wagen gesehen, rot und schwarz schimmernd .«
»Wahrscheinlich eine Zygäne mit fünf Flecken. Ein Giftschmetterling, der bislang nur in Madagaskar zu finden war. Wenn das so weitergeht . Können Sie sich vorstellen, Seidenameisen in Paris? Bonjour Panique. Das wäre ein lustiger Anblick ...«
Nachdem er sich die Antennen gesäubert und einige warme Stücke der »eingetretenen« Pförtnerin verzehrt hat, huscht Nr. 327 durch die hölzernen Gänge. Das königliche Gemach ist in der Nähe, er kann es riechen. Zum Glück ist es 25°, bei dieser Temperatur ist in der Verbotenen Stadt nicht allzuviel Betrieb. Er dürfte sich ohne Schwierigkeiten hindurchschlängeln können.
Plötzlich nimmt er den Geruch von zwei Kriegerinnen wahr, die ihm entgegenkommen. Eine große und eine kleine. Und der Kleinen fehlen zwei Beine ...
Sie saugen aus der Ferne gegenseitig ihre Düfte auf.
Unglaublich, das ist das Männchen!
Unglaublich, das sind die beiden!
Nr. 327 nimmt schleunigst Reißaus, um sie abzuhängen. Er kreist durch dieses dreidimensionale Labyrinth. Er verläßt die Verbotene Stadt. Die Pförtnerinnen halten ihn nicht auf, da sie nur darauf programmiert sind, zu verhindern, daß jemand von draußen nach drinnen eindringt. Seine Beine treten jetzt auf lockeren Boden. Er nimmt Kurve um Kurve.
Aber die beiden anderen sind auch sehr schnell und lassen sich nicht abschütteln. In diesem Moment rempelt das Männchen eine mit einem Grashalm beladene Arbeiterin an und stößt sie um. Das war keine Absicht, aber die Killerinnen mit dem Felsenduft werden in ihrem Schwung gebremst.
Er muß diese Atempause ausnutzen. Er versteckt sich schnell in einer Spalte. Die Hinkende nähert sich. Er zwängt sich noch ein wenig weiter in sein Versteck.
»Wo ist er hin?«
»Er ist wieder unten.«
»Wie, wieder unten?«
Lucie nahm Augustas Arm und führte sie zu der Kellertür.
»Seit gestern abend steckt er da drin.«
»Und er ist immer noch nicht zurück?«
»Nein, ich weiß nicht, was da unten vorgeht, aber er hat mir strikt verboten, die Polizei anzurufen ... Er ist schon ein paarmal da runtergegangen, und er ist jedesmal zurückgekommen.«