Augusta war verblüfft.
»Das ist verrückt! Sein Onkel hat es ihm doch ausdrücklich verboten .«
»Jetzt nimmt er schon Berge von Werkzeugen mit, Stahlteile, große Betonplatten. Keine Ahnung, was er sich da unten zurechtbastelt .«
Lucie schlug die Hände vors Gesicht. Sie war am Ende, sie spürte, daß sie wieder depressiv wurde.
»Und wir können ihm nicht nachgehen und ihn suchen?«
»Nein. Er hat ein Schloß angebracht und von innen abgeschlossen.«
Augusta setzte sich mit betretener Miene.
»O wei, o wei ... Wenn ich gewußt hätte, daß Edmonds Geist soviel Scherereien macht ...«
Spezialisten: Die über Millionen von Jahren vollzogene
Arbeitsaufteilung in den großen modernen Ameisen Städten hat genetische Mutationen erzeugt.
So kommen bestimmte Ameisen mit riesigen, scherenförmigen Mandibeln zu Welt, um Soldaten zu werden; andere haben stumpfe Mandibeln, um Getreidemehl herzustellen; wieder andere sind mit hochentwickelten Speicheldrüsen ausgestattet, um die jungen Larven zu befeuchten und zu desinfizieren.
Das ist ein wenig so, als kämen bei uns die Soldaten mit Fingern in Form von Messern zur Welt, die Bauern mit zangenartigen Füßen, damit sie die Obstbäume hinaufklettern können, die Ammen mit zehn Brüsten.
Aber von allen »berufsbedingten« Mutationen ist die der Liebe am eindrucksvollsten.
Damit sich die Masse der Arbeiterinnen nicht durch erotische Triebe ablenken läßt, werden sie geschlechtslos geboren. Sämtliche Fortpflanzungsorgane sind auf Spezialisten konzentriert: Männchen und Weibchen, die Prinzen und Prinzessinnen dieser parallelen Zivilisation.
Jene kommen einzig der Liebe wegen zur Welt, einzig zu diesem Zweck sind sie ausgerüstet. Sie verfügen über allerlei »Zubehör«, das ihnen bei ihrer Paarung dienlich ist. Das geht von den Flügeln über die zum Senden und Empfangen abstrakter Emotionen fähigen Antennen bis hin zu den Infrarot-Ozellen.
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
Das Versteck ist keine Sackgasse, es führt zu einer kleinen Grotte. Nr. 327 kriecht hinein. Die Kriegerinnen mit dem Felsenduft gehen vorbei, ohne es zu entdecken. Die Grotte ist jedoch nicht unbewohnt. Jemand ist darin, warm und duftend. Jemand, der deutlich, klipp und klar wissen wilclass="underline"
»Wer sind Sie?«
Dank seiner Infrarot-Ozellen nimmt das Männchen das Tier wahr, das ihn befragt. Ein großes Tier, das schätzungsweise neunzig Sandkörner wiegt. Mindestens. Aber eine Soldatin ist das nicht. Das ist etwas, was es bislang noch nie gerochen, noch nie gesehen hat.
Ein Weibchen.
Und was für ein Weibchen! Feine Härchen, angenehm mit Sexualhormonen versehen, zieren die anmutig geschwungenen Beine. Die kräftigen Antennen knistern vor starken Düften. Die Augen mit den roten Reflexen sind wie Blaubeeren. Sie hat einen wuchtigen, glatten, stromlinienförmigen Hinterleib. Einen breiten Brustschild, darüber ein wunderbar körniges Mesotonum. Und schließlich lange Flügel, doppelt so groß wie seine.
Das Weibchen spreizt seine niedlichen kleinen Mandibeln und . springt dem Männchen an die Kehle, um es zu enthaupten.
Nr. 327 kann kaum schlucken, er bekommt keine Luft. In Anbetracht des fehlenden Duftausweises hat das Weibchen nicht vor, seinen Würgegriff zu lockern. Es hat einen Fremdkörper vor sich, den es zu vernichten gilt.
Aufgrund seines kleinen Wuchses kann sich Nr. 327 letztlich doch befreien. Er klettert auf die Schultern des Weibchens, preßt seinen Kopf. Das Blatt wendet sich. Jetzt ist es an ihr, sich Sorgen zu machen. Sie wehrt sich.
Als ihre Kräfte schwinden, schiebt Nr. 327 seine Antennen vor. Er will sie nicht töten, will nur, daß sie ihm zuhört. Die Sache ist nicht einfach. Er will eine AK mit ihr. Ja, eine absolute Kommunikation.
Das Weibchen (Nr. 327 identifiziert ihre Legenummer, sie ist die Nr. 56) spreizt die Antennen, meidet den Kontakt. Dann bäumt sie sich auf, um sich von ihm zu befreien. Aber das Männchen bleibt wie verwurzelt auf ihrem Mesotonum und verstärkt den Druck seiner Mandibeln. Wenn er so weitermacht, wird er ihr den Kopf ausrupfen wie Unkraut.
Sie hält still. Nr. 327 auch.
Mit ihren Ozellen, die ein Blickfeld von hundertachtzig Grad haben, kann sie den auf ihrem Thorax sitzenden Peiniger deutlich sehen. Er ist ganz klein.
Ein Männchen.
Sie erinnert sich an die Lektionen der Ammen:
Die Männchen sind Halbwesen. Im Gegensatz zu allen anderen Zellen der Stadt sind sie nur mit der Hälfte der Chromosomen ausgestattet. Sie gehen aus unbefruchteten Eiern hervor. Sie sind also große Eizellen oder vielmehr große Samenzellen, die im Freien leben.
Sie hat also eine Samenzelle auf dem Rücken, die sie erwürgen möchte. Die Vorstellung amüsiert sie fast. Warum werden bestimmte Eier befruchtet und andere nicht? Wahrscheinlich aufgrund der Temperatur. Unterhalb von 20° kann die Spermathek nicht aktiviert werden, und die Königin legt unbefruchtete Eier. Die Männchen sind also aus der Kälte hervorgegangen. Wie der Tod.
Zum erstenmal sieht sie einen aus Fleisch und Chitin. Was hat er hier zu suchen, im Gemach der Jungfrauen? Dieser Bereich ist tabu, den weiblichen Zellen vorbehalten. Wenn irgendeine fremde Zelle in ihr zerbrechliches Heiligtum einbrechen kann, dann steht die Tür sämtlichen Infektionen offen!
Das Männchen Nr. 327 versucht erneut, den Antennenkontakt herzustellen. Aber das Weibchen läßt sich nicht überrumpeln.
Kaum spreizt er seine Antennen, klappt sie ihre auf den Kopf; kaum streift er das zweite Segment, zieht sie sie unverzüglich zurück. Sie will nicht.
Er erhöht den Druck seiner Kiefer, und es gelingt ihm, sein siebtes Antennensegment mit ihrem siebten in Berührung zu bringen. Das Weibchen Nr. 56 hat noch nie mit jemandem auf diese Weise in Verbindung gestanden. Man hat sie gelehrt, jeglichen Kontakt zu meiden, lediglich Düfte auszuscheiden oder aus der Luft zu empfangen. Aber sie weiß, daß diese ätherische Kommunikation trügerisch ist. Belo-kiu-kiuni hat eines Tages ein diesbezügliches Pheromon ausgestoßen:
Zwischen zwei Gehirnen gibt es stets allerlei Unverständnis und Lügen, hervorgerufen durch parasitäre Düfte, Luftströme und die schlechte Qualität von Sender und Empfang.
Das einzige Mittel, diese Unannehmlichkeiten abzustellen: die absolute Kommunikation. Der direkte Kontakt der Antennen. Der ungestörte Übergang der Informationen von einem Gehirn zum andern.
Für sie ist das wie eine Entjungferung ihres Geistes. Jedenfalls etwas Hartes und Unbekanntes.
Aber sie hat keine Wahl. Wenn er weiter so zudrückt, wird er sie töten. Sie zieht die Antennen auf ihre Schultern zurück zum Zeichen der Unterwerfung.
Die AK kann beginnen. Die beiden Antennenpaare rücken entschlossen zusammen. Leichter elektrischer Schlag. Die Nervosität. Langsam, dann immer schneller, reiben die beiden Insekten ihre gezackten elf Segmente aneinander. Ein Schaum bildet sich, mit konfusen Äußerungen gefüllt und voller Bläschen. Diese fette Substanz schmiert die Antennen ein und ermöglicht es, den Rhythmus des Reibens noch zu beschleunigen. Die beiden Insektenköpfe beben eine Weile unkontrolliert, dann beenden die Antennenstengel ihren Tanz und pressen sich der Länge nach aneinander. Jetzt gibt es nur ein Wesen mit zwei Köpfen, zwei Körpern und einem einzigen Antennenpaar.
Das natürliche Wunder vollzieht sich. Die Pheromone wandern über die tausend und abertausend kleinen Poren und Kapillaren der Segmente von einem Körper in den anderen. Das Denken vereint sich. Die Gedanken werden nicht mehr kodiert oder dekodiert. Sie werden in ihrem Zustand ursprünglicher Schlichtheit überreicht: Bilder, Musik, Gefühle, Düfte.