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Und in dieser ganz und gar unmittelbaren Sprache erzählt das 327. Männchen dem 56. Weibchen sein ganzes Abenteuer: die Vernichtung der Expedition, die Duftspuren der Zwerginnen, sein Treffen mit der Mutter, wie man versucht hat, ihn auszuschalten, den Verlust seines Duftausweises, sein Kampf mit der Pförtnerin, die Killerinnen mit dem Felsengeruch, die immer noch hinter ihm her sind.

Kaum ist die AK beendet, zieht sie ihre Antennen zum Zeichen des Wohlwollens zurück. Er steigt von ihrem Rücken.

Jetzt ist er ihr ausgeliefert, sie kann ihm mühelos den Garaus machen. Sie kommt näher. Mandibeln weit aufgesperrt, und ... überträgt ihm einige ihrer »Paß«-Pheromone. Damit ist er vorläufig aus dem Schneider. Sie schlägt ihm eine Trophallaxie vor. Er willigt ein. Dann läßt sie ihre Flügel kreisen, um sämtliche Ausdünstungen ihrer Unterhaltung zu verwehen.

Endlich. Er hat es geschafft, jemand zu überzeugen. Die Information ist angekommen, ist von einer anderen Zelle verstanden, akzeptiert worden.

Er hat seine Arbeitsgruppe gegründet.

zeit: Die Wahrnehmung des Ablaufs der Zeit ist bei Menschen und Ameisen völlig verschieden. Für die Menschen ist die Zeit absolut. Die Dauer einer Sekunde ist stets und immer wieder gleich, einerlei, was passiert.

Bei den Ameisen hingegen ist die Zeit relativ. Wenn es warm ist, sind die Sekunden sehr kurz. Wenn es kalt ist, dehnen sie sich endlos in die Länge, bis hin zum winterlichen Bewußtseinsverlust.

Diese elastische Zeit verleiht ihnen eine Wahrnehmung der Geschwindigkeit der Dinge, die sich von unserer grundlegend unterscheidet. Um eine Bewegung zu definieren, zählt für die Insekten nicht nur der Raum und die Zeit, sie fügen eine dritte Dimension hinzu: die Temperatur.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

Fortan sind sie zu zweit darum bemüht, möglichst viele Schwestern von der Bedeutung der »Affäre der zerstörerischen Geheimwaffe« zu überzeugen. Es ist noch nicht zu spät. Sie müssen jedoch zwei Punkte in Betracht ziehen. Zum einen wird es ihnen vor dem Fest der Wiedergeburt, das sämtliche Energien in Anspruch nehmen wird, nicht gelingen, genügend Arbeiterinnen auf ihre Seite zu ziehen. Sie brauchen also einen dritten Komplizen. Zum andern müssen sie Vorsorge treffen für den Fall, daß die Kriegerinnen mit dem Felsenduft wieder auftauchen. Sie brauchen ein Versteck.

Nr. 56 schlägt ihr Gemach vor. Sie hat dort einen Geheimgang gegraben, der ihr im Notfall die Flucht ermöglicht. Nr. 327 ist nicht sonderlich überrascht. Das ist zur Zeit schwer in Mode, Geheimgänge zu graben. Angefangen hat das vor hundert Jahren, während des Krieges gegen die Leimspuckerinnen. Eine Königin einer föderierten Stadt, Ha-yekte-duni, hatte sich in einen Sicherheitswahn gesteigert. Sie hatte sich eine »gepanzerte« verbotene Stadt bauen lassen. Die Seitenwände waren mit dicken Kieselsteinen bewehrt, die wiederum mit Termitenzement zusammengefügt waren!

Das Problem war, daß es nur einen Ausgang gab. So daß sie in ihrem eigenen Palast festsaß, als ihre Stadt von den Einheiten der leimspuckenden Ameisen umzingelt wurde. Die Leimspuckerinnen hatten keine Schwierigkeiten, sie zu fangen und in ihrem ekelhaften, schnell trocknenden Klebstoff zu ersticken. Die Königin Ha-yekte-duni wurde in der Folge gerächt und ihre Stadt befreit, aber ihr schreckliches und dummes Ende prägte auf lange Zeit das Denken der Belokanerinnen.

Da die Ameisen das ungeheure Glück haben, mit einem Mandibelhieb die Form ihrer Behausung zu verändern, begann jeder, seinen Geheimgang zu bohren. Eine Ameise, die ihr Loch gräbt, das mag noch angehen, aber wenn sich eine Million daranmacht, ist das eine Katastrophe. Die »offiziellen« Gänge brachen zusammen, so sehr waren sie von den »Privatgängen« unterhöhlt. Man benutzte seinen Geheimgang und landete dabei in einem wahren Labyrinth, das von »denen der anderen« gebildet wurde. Das ging so weit, daß ganze Viertel baufällig wurden und sogar die Zukunft von Bel-o-kan gefährdet war.

Belo-kiu-kiuni hatte dem einen Riegel vorgeschoben. Niemand durfte mehr auf eigene Faust graben. Aber wie sollte man sämtliche Gemächer kontrollieren?

Nr. 56 schiebt einen kleinen Stein zur Seite, der eine dunkle Öffnung freigibt. Dort ist es. Nr. 327 untersucht das Versteck, findet es perfekt. Bleibt nur noch, einen dritten Komplizen aufzustöbern. Sie gehen hinaus, verschließen das Loch sorgfältig. Das Weibchen Nr. 56 meint:

Wir nehmen die erstbeste. Laß mich machen.

Schon bald begegnen sie jemandem, einer großen geschlechtslosen Soldatin, die ein Stück eines Schmetterlings mit sich schleift. Das Weibchen redet sie von weitem mit emotionsgeladenen Botschaften an, spricht von einer großen Bedrohung für das Volk. Sie bedient sich der Sprache der Emotionen mit solch virtuoser Feinheit, daß das Männchen baß erstaunt ist. Die Soldatin läßt augenblicklich ihr Wildbret fallen und kommt herbei.

Eine große Bedrohung für das Volk? Wo, wer, inwiefern, warum?

Das Weibchen schildert ihr kurz die Katastrophe, die die erste Expedition des Frühjahrs ereilt hat. Ihre Art, sich auszudrücken, verströmt köstliche Düfte. Sie hat bereits den Anmut und das Charisma einer Königin. Die Kriegerin ist schnell gewonnen.

Wann ziehen wir los? Wieviel Soldatinnen brauchen wir, um die Zwerginnen anzugreifen?

Sie stellt sich vor. Sie ist die geschlechtslose Nr. 103 683 aus dem Gelege des vergangenen Sommers. Ein großer leuchtender Schädel, lange Mandibeln, Augen kaum vorhanden, kurze Beine, kurzum, eine mächtige Verbündete. Und eine geborene Enthusiastin. Das Weibchen Nr. 56 muß ihren Feuereifer sogar zügeln.

Sie erklärt ihr, daß es unter ihnen, inmitten des Volkes, Spioninnen gibt, womöglich Söldnerinnen, die für die Zwergameisen arbeiten und verhindern sollen, daß die Belokanerinnen das Rätsel der geheimen Waffe lösen.

Man erkennt sie an ihrem charakteristischen Felsengeruch. Wir müssen schnell machen.

Verlaßt euch auf mich.

Sie teilen untereinander die Stadt in Einflußzonen auf. Nr. 327 wird sich bemühen, die Ammen des Solariums zu überzeugen, die im allgemeinen recht naiv sind.

Nr. 103 683 wird versuchen. Soldatinnen anzuheuern. Wenn es ihr gelingt, ein Heer aufzustellen, wäre das schon toll.

Ich kann auch die Kundschafterinnen befragen, um weitere Informationen über diese Geheimwaffe der Zwerginnen zu erhalten.

Nr. 56 wird ihrerseits die Pilzkulturen und die Stallungen aufsuchen, um strategische Unterstützung zu erlangen.

Treffpunkt 23°-Zeit an gleicher Stelle, um Bilanz zu ziehen.

Diesmal lief im Fernsehen, im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt«, ein Bericht über die japanischen Sitten:

»Die Japaner, ein Inselvolk, leben seit Jahrtausenden in Autarkie. Die Welt ist für sie zweigeteilt: die Japaner und die anderen, die Fremden mit den unbegreiflichen Bräuchen, die Barbaren, bei ihnen Gai jin genannt. Die Japaner haben seit jeher einen sehr ausgeprägten Nationalsinn. Läßt sich beispielsweise ein Japaner in Europa nieder, wird er automatisch aus der Gruppe ausgeschlossen. Kommt er dann ein Jahr später zurück, sehen ihn seine Eltern nicht mehr als einen der Ihren an. Bei den Gai jin leben heißt ihren Geist annehmen, mit anderen Worten: ein Gai jin werden. Selbst seine Freunde aus der Kindheit werden ihn behandeln wie irgendeinen Touristen.«

Auf dem Bildschirm zogen die Bilder verschiedener Tempel und der geheiligten Orte von Shinto vorbei. Die Stimme aus dem Off fuhr fort:

»Ihre Vorstellung vom Leben und vom Tod unterscheidet sich von unserer. Hier hat der Tod eines Individuums keine große Bedeutung. Besorgniserregend ist der Verlust einer produktiven Zelle. Um den Tod zu zähmen, lieben es die Japaner, die Kunst des Kampfes zu kultivieren. Der Kendo wird von der Grundschule an gelehrt .«